25. Jahrgang | Nummer 4 | 14. Februar 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Der zerbrochne Krug“ – Deutsches Theater / Theatergeschichte „Erich Wonder: (T)Raumbilder für Heiner Müller“ – Ausstellung Akademie der Künste am Pariser Platz.

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DT: Der Schurke sagt Tschüss und verduftet 

Dem Zeitgeist verdanken wir jetzt sonderlich zwei Neuerungen in Kleists Klassiker von 1811: Zum einen, die Scherben des zerbrochnen Krugs, die Mutter Marthe Rull (Franziska Machens) wohlverwahrt in hausfräulicher Tupperdose als corpus delicti im Wiedergutmachungsprozess präsentiert, sind – Achtung! ‑ keine ordinären Bruchstücke, sondern die Reste eines kostbaren Familienerbstücks, das vor langer Zeit einer der Rullschen Ahnen aus einem Kolonialkrieg als Trophäe oder eben Raubkunst in die niederländische Dorfheimat verschleppte.

Zum anderen, Gerichtsrat Walter, befasst mit der Aufklärung des Falls – kaputter Krug als Folge einer Vergewaltigung von Rulls Tochter Eve – dieser Herr Rat ist jetzt eine Frau. Das freilich hat keinen Einfluss auf die Prozessführung. Denn Frau Rätin (Lorena Handschin) führt die Ermittlungen mit der gleichen souveränen Stringenz wie ihre in der bisherigen Aufführungsgeschichte männlichen Kollegen.

Auch sonst hält sich Regisseurin Anne Lenk an die so unverwüstliche, weil perfekt eingefädelte Justizkomödie um immerhin schweren patriarchalischen Machtmissbrauch, ist doch der Dorfrichter selbst der Verbrecher. Der sich wiederum keine allzu große Mühe gibt, seine Tat aufwändig zu vertuschen. Meint doch der alte Macho-Adam kraft amtlicher Allmacht die Sache mithilfe von Bestechung der Gerichtsrätin (Braunschweiger Würste, Rotwein) lax beiseiteschieben zu können. Klappt nicht, merkt er bald. Und verduftet mit einem coolen „Tschüss!“. Ein vergleichsweise kurzer, dabei trefflicher Auftritt von Ulrich Matthes, der in seiner provokant grinsenden, geradezu eleganten Kaltblütigkeit das alte sexistische Me-Too-Tätertum samt den entsprechenden Versuchen, den Rechtsstaat zu untergraben, flott auf den Punkt bringt.

Der tolle Rest, pointiert eingedampft auf 90 schnelle Minuten, ist perfekt an der Rampe entlang schnurrendes Komödienstadel mit Klasse-Komödiantinnen wie Franziska Machens als schnatternde Anklägerin oder gackelnde Tugendwächterin Marthe Rull oder Lisa Hrdina als lebenskluge Eve im beredt stummen Protest gegen Mutters vorlaute Beschränktheit – gegen alle Dummheit und Frechheit dieser Welt überhaupt. Dazu Tamer Tahan, ihr süßer tumber Liebhaber Ruprecht. Und Jeremy Mockridge als intrigant karrieregeiler Bürohengst Licht sowie Julia Windischbauer als süffisant gegen die Obrigkeit stänkernde Belastungszeugin Brigitte aus der stets alles beobachtenden Nachbarschaft.

Klar, für metaphysisches Schürfen (Adam, Eva, Paradies) oder assoziationsreiches Dekonstruieren hat man hier gar keine Zeit. Auch gut. Man ist ja witzig und auch scharf und gönnt sich ordentlich Spiellust. Kleist würde mit „Na meinetwegen!“ die volkstheaterhafte Chose durchgewunken haben. Muss sich doch unter Niveau niemand amüsieren im Parkett. Obgleich das Böse in der Luft liegt.

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AdK: Lebensmaschinen für Dramentexte 

„Mensch, der sagt ja nix“, stöhnt Erich Wonder, Bühnenbildner, über Heiner Müller, seinen Regisseur. „Immer bloß hm, hm, hm…“ Das war 1982 am Schauspielhaus Bochum. Müller inszeniert „Der Auftrag“. Der Autor aus Ostberlin trifft sich mit Wonder aus Wien für ein paar Tage, man redet über das Stück – es geht um Revolution, Verrat, Tod. Und man fährt wieder nach Hause. Nach zwei Monaten kommen sie wieder zusammen. Wonder: „Ich hab‘ ihm das Bühnenbild gezeigt. Hm. Er akzeptiert. Nimmt es als Kunstwerk, als etwas Autonomes. Über derartiges redet man nicht. Man arbeitet damit.“

Es war die erste gemeinsame Theaterarbeit des damals 33-jährigen Österreichers mit dem 15 Jahre älteren, in beiden Deutschlands wohl wichtigsten, zugleich umstrittensten Dramatiker. Denn trotz privilegierter Reisefreiheit für die andere Seite des Eisernen Vorhangs, Müller galt, so er selbst, für die Politbürokratie nach wie vor als „potentieller Staatsfeind mit trotzkistischer Tendenz“.

Auf Bochum folgten bis zum Tod Heiner Müllers Ende 1995 noch vier Gemeinschaftsproduktionen: „Maelstromsüdpol“, 1987, eine für die documenta Kassel bestimmte Performance (Text Müller, Musik Heiner Goebbels); 1987 ein so genanntes Produktionsstück aus der DDR-Frühzeit „Der Lohndrücker“ am Deutschen Theater Berlin, am gleichen Ort 1989/90 „Hamlet/Maschine“ und 1993 Richard Wagners „Tristan und Isolde“ für die Bayreuther Festspiele.

Das so Erstaunliche ist, dass die relativ wenigen Werke, die diese Künstlerfreundschaft hervorbrachte (Wonder erarbeitete insgesamt etwa 150 Inszenierungen), nichts weniger als ihre Epoche prägten. Grund genug für die Ausstellung „Erich Wonder – T/Raumbilder für Heiner Müller“ der Berliner Akademie der Künste. Wirft sie doch (ergänzt durch das Zeitzeugen-Rahmenprogramm „Zeitkino“) einen aufregenden Blick auf einen spannungsgeladenen Abschnitt deutsch-deutscher Theatergeschichte, der nicht nur aufgrund ästhetischer Innovationen so besonders ist, sondern obendrein eine historische Zeitenwende markiert.

Da bleibt es letztlich nachgeordnet, dass ihr Anlass die geglückte Übernahme des künstlerischen Archivs von Wonder durch die Akademie ist, die seit 1998 auch den Nachlass Müllers pflegt.

Stephan Suschke, Kurator der Schau und einst Regieassistent des Dichters, also ein profunder Kenner beider Künstler, bemerkt, dass Wonders Bühnenräume genau passten zu Müllers „verknapptem Denken“. Müller selbst habe die Räume „wie ein Trampolin genutzt“, auf dem seine Texte sich hätten „ausruhen“ und „spielerisch frei“ sein können. Und die Darsteller hätten sich darin gefühlt wie „in Lebensmaschinen“. Für Wonder war entscheidend, dass seine Räume „mitleben mit den Darstellern, mitmachen bei ihrem Spiel“.

Im West-Ost-Fall Müller-Wonder passte künstlerisch Grundlegendes wunderbar zusammen: Beide verabscheuten platten Abbildrealismus. Suchten vielmehr, ein jeder auf seine Art, nach poetischer Spiegelung der Realitäten, denen im Stück wie denen in der Wirklichkeit. „Das Draußen in die Theaterkisten bringen“, sagt Wonder. Geprägt vom Großkino Hollywoods (Kubrick, Scorsese), spricht er vom großformatigen Hineinzoomen der Bilder in die Räume. Dabei ging es immer, so Stephan Suschke, um „artifizielle Überhöhung“. Um so im Theater „eine andere Welt zu imaginieren, die – Brecht spielt immer mit – Lust macht, die sattsam vorhandene infrage zu stellen“.

So wird denn in den Ausstellungsräumen am Pariser Platz das große, ja spektakulär kunstvoll-theatralische Infragestellen des DDR-Zustands als Teil eines fragwürdigen Welt-Zustands signifikant nacherlebbar in den Dokumenten (Filme, Fotos, Skizzen, Gemälde, Notate, Requisiten, Bandaufnahmen, Kostüme; dazu das Rahmenprogramm „Zeitkino“) des Bochumer „Auftrag“ sowie der beiden DT-Produktionen „Lohndrücker“ (1988) und „Hamlet/Maschine“ (Probenbeginn Februar 89, Premiere 24. März 1990).

Das bestimmende Sinnbild war: Hamlet zwischen den Epochen: Zunächst eingefroren von Lenin/Stalin (letzterer grüßte als Puppe im Proszenium), dann allmähliche, irritierende Eisschmelze, dann fortschreitende Auflösung der Verhältnisse. Müller flapsig: „Vom Eiswürfel zum Brühwürfel.“ Oder: „Es fängt im Eis an und endet in der Wüste.“ Nicht nur Müller und Wonder empfanden ihre berserkerhafte Arbeit ‑ ein Jahr Vorbereitung/Proben, Aufführungsdauer gut fünf Stunden ‑ als ein Requiem auf die DDR. Und darüber hinaus…

Freilich, die Zeugen von damals sind im Vorteil. Bei ihnen setzt die Ausstellung auf Anhieb eine diffizile Erinnerungsmaschine in Gang. Holt auch die von der Wucht der Worte, der Bilder, der ungelösten, ja unlösbaren dramatischen Konflikte geprägte, dabei zwischen Komik und Erschütterung wankende Stimmung zurück die während der Aufführung im Publikum herrschte. – Auf der Bühne die betrügerische Brigade mit ihrem auf Ehrlichkeit setzenden Kollegen Lohndrücker; diese Industrie-Proleten im Stalinismus der 1950er Jahre gezwängt in eine schwere Arbeitswelt aus Hochofen-Panzerturm-Bunker, was meint: Fortsetzung des Krieges (jetzt Sozialismus gegen Kapitalismus) mit anderen Mitteln. Der Mythos vom epochalen Neuaufbau im lodernden Bild der das Alte, Abgelebte wegsprengenden Industrieofenfeuerkraft; ein Bild, das zum Sinnbild wird von Zukunfts-Zerstörung und Untergang. Müllers Kommentar: Die Gründung der DDR nach Hitler bekam durch Stalin ihre unheilbare Krankheit von Geburt an. Der Tod der DDR folgte knapp 22 Monate nach der „Lohndrücker“-Premiere.

Was vom Autor einst als aufbauend-kritisches Spiel vom Fortschritt gedacht war, wandelte sich unter seiner Regie Jahrzehnte später, zum Endspiel, zur Tragödie. Selten stürzten Wirklichkeit und Kunst derart ineinander. Für beide Seiten ein Glücksfall. Für die beiden Künstler auch. Und für die Ausstellung.

Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin, bis zum 13. März.