Der Sinn der Übung besteht darin,
die verblüffende Unmöglichkeit
der Entscheidungen zu verdeutlichen,
die der Führer eines Atomwaffenstaates treffen muss.
Julian Borger
The Guardian
Landgestützte ballistische Interkontinentalraketen, sogenannte ICBMs (siehe ausführlicher Blättchen 6/2021), benötigen auf dem Weg von Russland oder China bis in die USA und umgekehrt circa 30 Minuten, um ihre atomare Last ins Ziel zu bringen. Die Fernaufklärungs- und Frühwarnsysteme dieser Mächte sind darauf ausgelegt, entsprechende Raketenstarts möglichst rasch aufzufassen, um der politischen und militärischen Führung einen maximalen zeitlichen Spielraum dafür zu eröffnen, den angezeigten Angriff entweder als Panne im System (technisches Versagen) zu identifizieren oder anderenfalls den Gegenschlag einzuleiten, bevor eigene ICBMs durch den Gegner vernichtet werden. Die Zeitspanne dafür nehmen Experten derzeit mit 15, maximal knapp 20 Minuten an. Es sind allerdings bereits erste sogenannte Hyperschallflugkörper getestet worden, die diese Spanne in absehbarer Zeit drastisch weiter verringern könnten.
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Apropos Panne im System: Dass komplexe elektronische Frühwarneinrichtungen bisweilen ein unkalkulierbares Eigenleben führen ist für die Jahrzehnte des Kalten Krieges wiederholt dokumentiert:
- Oktober 1960 – das U.S.-Frühwarnradar in Thule, Grönland, meldete dem Hauptquartier des US-Luftverteidigungssystems NORAD, dass es Dutzende von sowjetischen Raketen entdeckt habe, die gegen die USA im Anflug seien. NORAD ging auf seine höchste Alarmstufe. Heraus stellte sich, dass das Radar durch den Mondaufgang über Norwegen getäuscht worden war und Computer dies fälschlicherweise als Angriff interpretiert hatten. Die US-amerikanische Union of Concerned Scientists hat diesen und andere Fälle zusammengetragen.
- September 1983 – an jenem Tag war es dem sowjetischen diensthabenden Oberst Stanislaw Petrow zu verdanken, dass ein atomarer Gegenschlag nicht nach dem festgelegten Prozedere ausgelöst wurde, weil Petrow entgegen seinen dienstlichen Richtlinien weiter nach der Panne im System suchen ließ, als die sich der Alarm schließlich herausstellte, wie DER SPIEGEL 2010 berichtete. (Der Offizier wurde anschließend disziplinarisch gemaßregelt.)
Auch nach dem Ende des Kalten Krieges sind entsprechende Fälle belegt, etwa im Januar 1995, als ein russisches Frühwarnradar einen Raketenstart vor der norwegischen Küste ausmachte, dessen Parameter dem US-amerikanischer SLBSs (U-Boot-gestützter ballistischer Raketen) ähnelten. Präsident Jelzin aktivierte das russische Prozedere zum Start strategischer Atomwaffen …
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Nur 15 Minuten Zeit zur Entscheidung über die Auslösung eines atomaren Gegenschlages und dies unter dem psychischen Druck drohender nuklearer Auslöschung durch die Gegenseite. Wie im Falle des Falles in dieser Zeitspanne die Entscheidungsfindung in den USA tatsächlich ablaufen und wie sich Entscheidungsträger verhalten würden, damit befasst sich seit einigen Jahren ein gemeinsames Simulationsprojekt der US-amerikanischen School of International Service an der American University, Washington DC, und des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg, das mit Virtual Reality (VR, computergenerierter Wirklichkeit in Ton und Bild, letzteres im 3D-Format) operiert und unter The Nuclear Biscuit firmiert. In einer Information des IFSH heißt es: „Einmal in der Haut des US-Präsidenten stecken und das nur wenige Minuten vor einem Nuklearschlag: Das Virtual-Reality-Programm ‚Crisis Decision-Making: A Virtual Reality Experience‘ macht es möglich. […] Das Projekt demonstriert auf anschauliche Weise die Problematik des sogenannten ‚Launch-on-Warning‘: Interkontinentalraketen erreichen die gegnerische Seite in rund 30 Minuten. Das Dilemma: Innerhalb dieser Zeit muss ein Gegenschlag gestartet werden oder die eigenen Raketen werden durch den Angriff zerstört. Daher gibt es vorgefertigte Entscheidungsabläufe, in denen über Leben und Tod von Millionen von Menschen entschieden wird. Die VR-Anwendung bietet eine aufschlussreiche, glaubwürdige Einsicht in den Entscheidungsprozess, wie er im Krisenfall unter derzeitiger US-Strategie und -Planung zu erwarten wäre.“
Der Titel des Projektes leitet sich von der Karte mit nuklearen Abschusscodes her, im Jargon der US-amerikanischen Kernwaffengemeinde Biscuit genannt, die den Präsidenten zur Einsatzfreigabe von Atomwaffen autorisieren.
Erste Projekterfahrungen wurden auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 vorgestellt. Im Herbst 2021 wurden Experimente mit Studenten der Princeton University und politischen Fachleuten in Washington DC durchgeführt, und erst vor vier Wochen, vom 10. bis 13. Januar 2022, wurde das Projekt Mitgliedern und Mitarbeitern des US-Kongresses vorgeführt. Voraussichtlich im Spätsommer 2022 soll ausführlich über Ergebnisse berichtet werden.
Bereits teilgenommen an einem entsprechenden Experiment und einen ausführlichen Erlebnisbericht darüber publiziert hat Julian Borger, World Affairs Editor des britischen The Guardian.
Borgers Bericht beginnt mit folgendem „Stimmungsbild“: „Dass die Dinge an diesem Tag furchtbar schiefgelaufen waren, wurde mir klar, als ich sah, dass die gemäßigtste Option auf dem Schreibtisch vor mir die Tötung von mindestens fünf Millionen Menschen vorsah. Ich könnte bis zu 45 Millionen Menschen töten, wenn ich mich für die umfassendere der auf drei Zetteln dargelegten Alternativen entscheide, aber es war schwer, sich auf die Details zu konzentrieren, weil Leute durch meinen Kopfhörer und von den Bildschirmen vor mir auf mich einschrien. Ich erlebte, was ein amerikanischer Präsident im Falle einer Nuklearkrise tun müsste: eine Entscheidung treffen, die das Leben von vielen Millionen Menschen – und möglicherweise das Leben auf dem Planeten – beenden würde, und das mit unvollständigen Informationen und in weniger als 15 Minuten.“
Die Ausgangslage der Simulation, an der er teilgenommen hat, umreißt Borger dahingehend, dass Frühwarnsensoren den Start von 299 Raketen in Russland entdeckt hätten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das amerikanische Festland und auf die ICBM-Silos im Nordwesten gerichtet seien. Schätzungsweise zwei Millionen Amerikaner würden getötet werden. Noch während ihm dies erklärt wurde, teilte ihm ein weiterer Geheimdienstmitarbeiter mit, dass Hubschrauber unterwegs seien, um ihn zu evakuieren. Dies alles bei heulender Alarmsirene, was der Konzentration nicht eben dienlich war. „Es dauerte einige Minuten, bis ich mich daran erinnerte, dass ich der Oberbefehlshaber war und befehlen konnte, die Sirene auszuschalten.“
Den weiteren Fortgang schildert Borger so: „Ein General vom strategischen Kommando erschien auf einem der Bildschirme vor mir und teilte mir mit, dass ich nicht mehr viel Zeit habe, um eine Entscheidung zu treffen, und ich solle die Digitaluhr auf dem Konferenztisch im Auge behalten. Sie zeigte an, dass noch zwölf Minuten und 44 Sekunden verblieben. ‚Wenn Sie keine Entscheidung treffen, bevor die Uhr Null erreicht, werden wir unsere gesamte ICBM-Streitmacht verlieren‘, sagte der General […].“ Vorgelegt worden seien ihm, Borger, drei Optionen: „Die erste war ein ‚begrenzter Gegenschlag‘, der auf russische ICBM-Silos und wichtige U-Boot- und Bomberbasen abzielte. Das war die Variante, bei der fünf bis 15 Millionen Russen getötet würden. Option 2 war ein ‚umfassender Gegenschlag‘ mit geschätzten 10 bis 25 Millionen Opfern. Option 3 zielte darüber hinaus auf die ‚kriegswichtigen Industrien‘ und die russische Führung ab und würde 30 bis 45 Millionen Opfer fordern.“
Borger konstatiert: „Die Simulation wirft die Frage auf, wer diese Optionen überhaupt auswählt. In den 15 Minuten, die zur Verfügung stehen, wäre es unmöglich, einem Präsidenten alle denkbaren Alternativen zu unterbreiten, so dass derjenige, der sie auswählt, eine große Machtfülle besitzt. Wir wissen nur, dass es jemand aus dem US-Militär ist. Diplomaten, Politiker oder Ethiker sind an diesem Prozess nicht beteiligt.“
Und Borgers Ausklang? „[…] ich [war] in den letzten Minuten des Countdowns wie erstarrt und wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Ich hätte vielleicht versuchen sollen, Wladimir Putin anzurufen, aber es stellte sich heraus, dass die Simulation mir sagte, er sei nicht erreichbar.“
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„Man geht in diese Simulation hinein und kommt als veränderter Mensch wieder heraus“, lautete das Fazit Richard Burts, einst Chefunterhändler der USA bei Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion, nach seiner Teilnahme an einer Nuclear Biscuit-Runde. Das ist im Hinblick auf Joe Biden, den aktuellen Mann am US-Atomknopf jedoch eher nicht zu befürchten, denn mit Ausnahme von Jimmy Carter, US-Präsident von 1977 bis 1981, gibt es keine Belege dafür, dass je ein US-Präsident an realistischen Übungen teilgenommen hätte, um potenziell weltbewegende Entscheidungen zu trainieren. Das ist vielleicht, meint auch Borger, das Schockierendste in diesem Kontext.
Schlagwörter: atomarer Gegenschlag, Atomwaffen, Frühwarnsystem, Launch-on-Warning, Nuclear Biscuit, Sarcasticus, Virtual Reality