25. Jahrgang | Nummer 4 | 14. Februar 2022

Ringen um Mittelasien

von Edgar Benkwitz

Jetzt ist auch Indien verstärkt in das Ringen um Einfluss in den fünf mittelasiatischen Staaten eingestiegen. Mit einer virtuellen Gipfelkonferenz am 27. Januar, an der die  Präsidenten von Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan und Tadschikistan sowie der indische Premierminister teilnahmen, wurde dazu der Startschuss gegeben. In einem Grundsatzdokument werden ausführlich die Perspektiven in den Beziehungen dieser Staaten mit Indien festgehalten. Für die indische Diplomatie ist dieser Gipfel ein bedeutender Erfolg. Doch auch die mittelasiatischen Staaten haben nachhaltig ihre Interessen in Szene gesetzt. 

Bekanntlich sind diese Staaten erst seit 30 Jahren unabhängig. Sie verfügen über ein riesiges Territorium von vier Millionen Quadratkilometern (etwa die Größe aller EU-Staaten), auf denen jedoch nur 75 Millionen Einwohner leben. Enorme Rohstoffvorkommen und die geostrategische Lage haben seit ihrer Gründung die Begehrlichkeiten ausländischer Mächte geweckt. So versuchten die USA wiederholt, sich in der Region festzusetzen. Doch Anfangserfolge scheiterten, dafür sorgte vor allem der nach wie vor starke Stand Russlands. Es ist auch heute noch die einflussreichste ausländische Macht in Mittelasien, die sich aber zusehends der Konkurrenz Chinas erwehren muss. Mit dem Projekt „Neue Seidenstraße“, das sich durch alle fünf Staaten zieht und in das bis 2019 36 Milliarden US-Dollar geflossen sind, ist es mit Abstand der größte Investor. 

Indien ist in den mittelasiatischen Staaten seit 2015 spürbar präsent, als Premierminister Narendra Modi alle fünf Hauptstädte besuchte. Heute ist es in Mittelasien angesehen, ernstzunehmende Probleme gibt es nicht. Man schätzt Indiens Einfluss in der Weltpolitik und erhofft sich eine effektive Unterstützung spezifischer Anliegen auf internationalem Gebiet. Der südasiatische Nachbar wird auch als zukünftiger bedeutender Handelspartner und Investor betrachtet. Nicht zuletzt ist der Einfluss Indiens als eine Ausgleichskraft zu den Bestrebungen anderer Großmächte willkommen.

Indiens Politik greift diese Anknüpfungspunkte auf, um nach den Worten von Premierminister Modi eine zusammenhängende und stabile Nachbarschaft zu schaffen. Darüber hinaus wird die sich verändernde Kräftekonstellation in der Region, die durch den Abzug der US-Truppen und die instabile Lage in Afghanistan entstanden ist, genutzt. Die Machtergreifung durch die Taliban und die ausgehende Terrorgefahr von Afghanistan haben bei den mittelasiatischen Staaten wie auch bei Indien große Sorgen ausgelöst und wirken als Katalysator für ein verstärktes Zusammengehen. 

Für eine engere Zusammenarbeit gilt es jedoch Hindernisse zu überwinden. Das ist vor allem die geopolitische Barriere durch Pakistan, die die notwendigen direkten Landverbindungen Indien-Mittelasien verhindert. Auch ist zu erwarten, dass sich Pakistan, sicherlich im Gleichklang mit China, einem größeren Einfluss Indiens nördlich seines Staatsgebiets entgegenstellen wird. Ein weiterer hinderlicher Faktor sind radikale islamistische Kräfte in der Region, die gemäß ihren eigenen politischen Bestrebungen sowohl gegen Regimes in Mittelasien als auch gegen Indien auftreten.

Diesen Problemen wollen sich die indische und die mittelasiatischen Regierungen künftig verstärkt stellen. Die bereits vorhandene Zusammenarbeit der Sicherheitsberater soll deshalb intensiviert, gemeinsame Übungen zur Terrorbekämpfung weitergeführt werden.

Die Entwicklung in Afghanistan hat deutliche Auswirkungen auf die anliegenden Staaten. Eine Arbeitsgruppe soll deshalb koordinierend wirken und die Regierungen der sechs Staaten beraten. Es bleibt abzuwarten, welche Initiativen ergriffen werden, um ein „friedliches, sicheres und stabiles“ Afghanistan zu erreichen und insbesondere „die Rechte der Frauen und von Minderheiten zu schützen“, wie es in der Deklaration der sechs Staatschefs heißt. 

Für Indien ist die Schaffung von Landverbindungen nach Mittelasien der Dreh- und Angelpunkt für seine Beziehungen nach Mittelasien. Aber auch die Binnenstaaten brauchen einen garantierten Zugang zum Meer. Offensichtlich mit Zustimmung des Iran wird jetzt wieder über Handels- und Transitkorridore gesprochen, die von Mittelasien zum Arabischen Meer verlaufen sollen. Für Indien ist bedeutsam, dass der von ihm im Iran erbaute Hafen Chabahar – der nicht zuletzt wegen US-Sanktionen gegen den Iran ein Schattendasein führt – in ein künftiges Infrastruktursystem integriert wird. 

Neben diesen Anliegen liegt der Schwerpunkt der zukünftigen Zusammenarbeit auf einer Unterstützung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der mittelasiatischen Staaten durch Indien. Dazu sieht die indische Regierung eine Vielzahl von Maßnahmen vor, die sich auf leistungsstarke Gebiete wie Gesundheitswesen, Pharmazie, Bildung, IT-Technologie, Infrastruktur, Energie sowie die Verarbeitung von Textilien, Leder und Edelsteinen konzentrieren. Eine Investitionsagentur und eine IT-Task Force sollen neben anderen Arbeitsgruppen tätig werden.

Koordinierte Anstrengungen der sechs Staaten sollen zur Klärung drängender Probleme der Region beitragen. Nicht zuletzt wurde auch ein Mechanismus für die Zusammenarbeit beschlossen. Gipfelkonferenzen werden alle zwei Jahre stattfinden, die Außen-, Wirtschafts- und Kulturminister treffen sich in kürzeren Zeiträumen. Zwecks Koordinierung aller Aktivitäten wird in Neu-Delhi ein Sekretariat der Gipfelkonferenz eingerichtet.

Doch Erfolge sind keine Selbstverständlichkeit. Die mittelasiatischen Staaten werden von vielen Seiten mit unterschiedlichen Interessenlagen umworben, das musste Indiens Diplomatie gerade in diesen Tagen erfahren. Medien zufolge waren die Präsidenten der fünf Länder schon längerfristig als Ehrengäste zum indischen Nationalfeiertag am 26. Januar nach Neu-Delhi mit nachfolgender Gipfelkonferenz eingeladen. Doch dann wurde bekannt, dass am 25. Januar – also einen Tag zuvor – Chinas Präsident Xi eine online-Gipfelkonferenz mit eben diesen Präsidenten aus Anlass des 30. Jahrestages der Herstellung diplomatischer Beziehungen abhalten würde. Hier überreichte China für die nächsten drei Jahre 500 Millionen US-Dollar für soziale Projekte, es liefert noch 2022 kostenlos 50 Millionen Dosen Corona-Impfstoff und wird 5000 Fachkräfte aus der Gesundheits- und IT-Branche qualifizieren.

Parallel verlaufende Ereignisse? Jedenfalls fanden am 26. Januar in Neu-Delhi die Feierlichkeiten erstmalig ohne ausländische Ehrengäste statt und die Gipfelkonferenz wurde virtuell abgewickelt. Wie es offiziell heißt, aus Gründen der Corona-Epidemie.