Nach biblischer Überlieferung führte Moses das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft in das gelobte Land; er ist auch der Mann, der den Israeliten die Zehn Gebote überbrachte. Wenn es um „biblische Themen“ geht, ist auch ein „moderner Moses“, der australische Historiker Anthony Dirk Moses, äußert rührig; diese Themen waberten „unter dem Schaum der Oberfläche“. Nebulös; was verdeckt der Schaum? Zum Beispiel, dass in Deutschland die Erinnerung an Auschwitz ein „christologisch geprägter Erlösungsnarrativ“ sei, die „´Opferung´ der Juden“ als „Heilsgeschichte“ erzählt werde; dass das Ganze ein „Katechismus“ mit dem Ziel sei, „den Holocaust als die Negation der westlichen Zivilisation zu sakralisieren“. Oha; mehr Bombast ist kaum möglich.
A. D. Moses trat eine weltweite Debatte los, die auch namentlich hierzulande einige Wellen schlägt – es geht dabei um die Einzigartigkeit, die „Singularität“ des Holocaust und um die Beziehung, das vermeintliche innere, historische Band zwischen dem Massenmord der Nazis an den europäischen Juden und kolonialer Gewalt und Verbrechen. Gefragt wird: Versperrt nicht der Umgang mit dem Holocaust in Deutschland den Blick auf die Verbrechen des Kolonialismus? Die, die diese Frage bejahen, sagen: Auschwitz werde zu einer „Keule der Zensur“ – 1998 hatte Martin Walser auch von „Moralkeule“ gesprochen –, was zur Folge habe, dass andere Völkermorde „fetischhaft“ geleugnet würden, jeder Vergleich mit anderen, kolonialen Verbrechen „tabuisiert“ sei. So behaupten es jedenfalls der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg und der Historiker Jürgen Zimmerer,
Bis 1884 besaß Deutschland keine Kolonien; vorherige Kolonisationsversuche wie beispielsweise der Brandenburg-Preußens von 1682–1717 an der Goldküste, dem heutigen Ghana, waren nicht von Dauer. Es ist richtig, dass – ausgehend von diesem eher geringen Belang der Kolonien für Deutschland – der deutsche Kolonialismus und seine Verbrechen im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit keinen herausragenden Platz einnehmen. Es dominieren im kollektiven Gedächtnis der von Deutschland maßgeblich verursachte Erste Weltkrieg, die Revolution von 1918/19, die Inflation von 1923, die Weltwirtschaftskrise 1929 und natürlich die Nazi-Herrschaft mit all ihren Folgen; namentlich die Erinnerung an Auschwitz.
Diese historischen Traumata sind bis heute noch so virulent, dass sie die deutsche öffentliche Meinung und Politik beeinflussen: Beispiele sind die gerade wieder aufkeimende Inflationsangst bis hin zur Ablehnung dauerhafter gemeinsamer europäischen Schulden und die pazifistisch motivierte Zurückhaltung bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland; oft zum Ärger westlicher Alliierter. Auch die Angst vor instabilen politischen Verhältnissen, die sich heute auch wieder in der Toleranz gegenüber autokratischen, Sicherheit versprechenden Regimen zeigt, speist sich aus historischen Quellen. Trotzdem – die Geschichte der kolonialen Verbrechen liegt nicht im Dunklen: Ob die Genozide an den Hereros und Namas im damaligen Deutsch-Südwest 1904, der Krieg gegen die Maji-Maji-Bewegung mit zwischen 75.000 und 300.000 Toten in den ostafrikanischen deutschen Kolonien oder die Niederschlagung des Boxer-Aufstands in China mit Tausenden von Opfern – all das ist bekannt und zunehmend Gegenstand einschlägiger Diskurse und Abhandlungen; von „leugnen“ kann keine Rede sein.
Eine Sonderstellung nimmt im deutschen kollektiven Gedächtnis der Holocaust ein. Der deutsche Staat sieht sich als Garant der Sicherheit Israels; diese sei „deutsche Staatsraison“, was heißt, dass beispielsweise die Bundesrepublik zu Sonderkonditionen U-Boote an den jüdischen Staat liefert. Daneben gibt es eine elaborierte Erinnerungskultur zur Shoah mit entsprechenden Gedenktagen, Kranzniederlegungen und Reden mit dem Versprechen, so etwas nie wieder zuzulassen. Eine „Sakralisierung“ vermag ich zumindest nicht zu entdecken; eher eine routinierte Profanisierung, was nicht unbedingt schlecht sein muss und vielleicht auf eine gewisse kathartische Wirkung dieser Rituale hindeuten könnte. Auch die Täter der immer wieder vorkommenden antisemitischen „Ereignisse“ und Verbrechen beziehen sich desgleichen häufig auf den historischen Kontext der Judenverfolgung im 3. Reich.
Das Ansinnen der Moses, Rothberg, Zimmerer ist es, die Shoah in eine Reihe mit anderen – namentlich kolonialen – Verbrechen zu stellen und sie so ihrer Einzigartigkeit zu berauben. Das führt zu der Frage: War die Shoah tatsächlich einzigartig, singulär? Der gerade medial umfänglich aufgearbeitete Jahrestag der Wannsee-Konferenz vom 22. Januar 1942 hat das meines Erachtens nach nochmals mit großer Deutlichkeit demonstriert: Da saß eine Männerrunde aus Spitzenfunktionären des NS-Regimes zusammen und verhandelte mit bürokratischer Routine ohne jedwede Emotion den Mord an 10 Millionen europäischer Juden; sie hätten mit gleicher Gelassenheit über jeden anderen Gegenstand staatlichen Handelns in gleicher Manier reden können. Schon da beginnt, was Hannah Arendt die „Banalität des Bösen“ nannte. Der auf der Konferenz protokollführende Adolf Eichmann, später mit der Organisation dieses monströsen, alle kulturellen und zivilisatorischen Werte und Errungenschaften infrage stellenden Verbrechens beauftragt, hat höchstwahrscheinlich keinem einzigen Juden ein Haar gekrümmt, geschweige denn selber umgebracht. Aber er und seine Helfershelfer stellten alle technischen und organisatorischen Ressourcen ebendieser Zivilisation in den Dienst „der Sache“ – der fabrikmäßigen Extermination von Juden; Georg Lukács spricht von „Todeskombinaten“. Und das nur und ausschließlich deshalb, weil sie Juden waren! Die Täter begingen einen Zivilisationsbruch; die Shoah ist keine „Heilsgeschichte“, sie ist „die Negation der westlichen Zivilisation“.
Dem auch vorgebrachten Argument, die „Judenfrage“ habe sich als „soziale Frage“ dargestellt, ja vom „Raubmord zur Finanzierung des Sozialstaats“ wird gesprochen, will ich entgegenhalten, dass – anders als im Kolonialismus – Landraub und Ausbeutung natürlicher Ressourcen keine Rolle spielten und der Antisemitismus als verschwörungsideologische Weltanschauung der Nazis für diese einen sozial- und machtpolitischen Mehrwert darstellte; auch teilweise in den von ihnen unterworfenen Ländern. Dass der Nazi-Staat sich an jüdischem Eigentum bereicherte und dass die deutschen „Volksgenossen“ von der jüdischen Vertreibung auch materiell profitierten, steht dem nicht entgegen; zumal sie sich damit auch zu Komplizen des Regimes machten.
Wie eingangs geschrieben, geht auf A. D. Moses die „Sakralisierung“ des Holocaust zurück; wozu das? Ich denke: um behaupten zu können, dass das „Heiligtum Holocaust“ mit seiner Aureole die Debatte über andere Verbrechen, namentlich die kolonialen, gleichsam überblende, letztere in den Schatten stelle und so ihre historische Bewertung be-, wenn nicht gar verhindere. Und paradoxerweise ist es dann auch Moses, der den erst von ihm geschaffenen Nimbus „mit rebellischem Gestus“ zusammen mit anderen stürzt, um den Holocaust „zwanghaft der Gestalt kolonialer Gewalt” anzuverwandeln, so der Historiker Dan Diner. Wenn Zimmerer und Rothberg schreiben, dass es in der Diskussion um die Singularität des Holocaust um die Abwehr der Debatte über die kolonialen Verbrechen gehe, so liegen sie falsch: Nicht die Einzigartigkeit der Shoah behindert die Debatte, sondern deren mir völlig unverständliche Sakralisierung, was ihre Herausnahme aus dem „irdischen“ Diskurs bedeutet. Auschwitz ist ein singulär herausragendes deutsches Verbrechen in einer langen historischen Kette weltweiter Verbrechen; namentlich kolonialer, begangen von Deutschen und anderen. Die Anerkennung dieser Sonderstellung schmälert nicht die Grausamkeit der anderen Genozide; desgleichen führt deren – notwendige! – verstärkte Erforschung und Befassung nicht zur „Minimierung“ der Shoah. Nur diese Einordnung kann zu der von Zimmerer und Rothberg geforderten „multidirektionalen Erinnerung“ führen.
Und ganz am Schluss: Der moderne Moses führt nicht ins gelobte Land historischer Klarheit, sondern stiftet Verwirrung …
Schlagwörter: A. D. Moses, Deutschland, Holocaust, Kolonialismus, Singularität, Stephan Wohanka