25. Jahrgang | Nummer 4 | 14. Februar 2022

Der Jahreswirtschaftsbericht und die Sozial-ökologische Marktwirtschaft

von Jürgen Leibiger

Es ist zwar der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, der immer im Januar veröffentlicht wird, aber federführend ist das Wirtschaftsministerium. Es liegt mit Robert Habeck seit kurzem in bündnis-grüner Hand. Obwohl die Fakten des Berichts natürlich schon von der alten Ministerialbürokratie aufbereitet worden waren, spiegelt er in vielen grundlegenden Passagen nicht nur schlechthin die Kompromisse des Koalitionsvertrages, sondern auch ausgesprochen „grünes“ Gedankengut wider. Es wird niemanden wundern, dass der erste Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von einem „Zerrbild der Sozialen Marktwirtschaft“ spricht; von nun an würden es „Leistungsbereitschaft und Unternehmensgeist in Deutschland schwer haben“.

In seinem Geleitwort schreibt Habeck von einer „Jahrhundertaufgabe“, vor der die Regierung stehe: „In weniger als 25 Jahren wollen wir klimaneutral leben“. Dazu solle die „Soziale Marktwirtschaft“ zur „Sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ weiterentwickelt werden. Der Begriff, der weder im Wahlprogramm der SPD noch – natürlich nicht – dem der FDP auftaucht, war von Bündnis 90/Die Grünen in den Koalitionsvertrag geschrieben worden. Obwohl die westdeutschen Grünen schon in ihrem allerersten, noch von systemkritischen Haltungen geprägten Programm eine „sozial und ökologisch ausgerichtete Wirtschaft“ forderten, wurde der Begriff der Ökosozialen Marktwirtschaft ursprünglich von eher konservativen Politikern geprägt. Die später aufgelöste christdemokratische und konservative Europäische Demokratische Union, zu der auch die CDU gehörte, bekannte sich auf Drängen der österreichischen ÖVP 1991 dazu, „der Sozialen Marktwirtschaft eine weitere Dimension zu verleihen: Ökologische Zielsetzungen. Sie sollen die Soziale Marktwirtschaft in eine Ökosoziale Marktwirtschaft verwandeln.“ Es ist genau diese Position, die auch im Jahreswirtschaftsbericht zum Tragen kommt. Obwohl neben fragwürdigen und halbherzigen auch begrüßenswerte Einzelmaßnahmen aufgeführt sind, wie der Umbau in eine nachhaltige Wirtschaft vorangebracht werden soll, setzt auch die neue Bundesregierung „grundsätzlich auf die Dezentralität und den Preismechanismus und damit marktwirtschaftliche Instrumente“. So ließen sich „effiziente und substanzielle Fortschritte in Richtung einer Sozialökologischen Marktwirtschaft gerade durch eine stärkere Rückbesinnung auf die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft erzielen.“ Anders ausgedrückt: die Weiterentwicklung der Sozialen zur Sozial-ökologischen Marktwirtschaft soll durch eine stärkere Rückbesinnung auf die Soziale Marktwirtschaft erfolgen. Alles klar? Ohne diesen Einschub hätte das FDP-geführte Finanzministerium unter Christian Lindner den Bericht aber wohl kaum passieren lassen.

Die konkret vorgestellten Maßnahmen sind freilich nicht nur „marktwirtschaftlicher“ Natur und sie umfassen auch nicht nur ordnungspolitische Weichenstellungen derart, dass nur die Rahmenbedingungen für das ansonsten freie Wirken von Marktkräften betroffen wären. Es geht durchaus um Markteingriffe und marktferne Mechanismen. Hier entstand auch ein nicht zu unterschätzender Druck durch das Verfassungsgerichtsurteil gegen das Klimaschutzgesetz von 2019. Die Crux wird sein, worauf sich die Ampelregierung tatsächlich einigen kann und was gegenüber der geballten Macht des an ihren Pfründen hängenden Finanz-, Industrie- und Dienstleistungskapitals und ihrer Lobby dann auch durchgesetzt wird. Viele Leserinnen und Leser werden sich noch erinnern, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel im knallroten Anorak vor schmelzenden Grönlandgletschern als „Klimakanzlerin“ gefeiert wurde. In den fünfzehn Jahren seitdem ist zwar Einiges passiert, aber die meisten Ziele wurden verfehlt und mit dem damals verliehenen Titel mochte sie zuletzt niemand mehr in Verbindung bringen. Sie mutierte zur „Krisenkanzlerin“ und wollte „Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.“ Mal sehen, was mit der „Klima-Ampel“ passiert.

Mir ist auch eine andere bemerkenswerte Neuerung aufgefallen. Die „Solidarische und soziale Ökonomie“ sollen als Treiber der Transformation gestärkt werden. „Unternehmen, deren Hauptmotiv auf der Lösung gesellschaftlicher Probleme liegt und die nicht den Gesellschaftergewinn in den Vordergrund stellen, können weiter an Bedeutung gewinnen.“ Dazu soll eine „nationale Strategie“ erarbeitet werden, „um gemeinwohlorientierte Unternehmen und soziale Innovationen stärker zu unterstützen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für gemeinwohlorientiertes Wirtschaften, wie zum Beispiel für Genossenschaften, Sozialunternehmen und Integrationsunternehmen, sollen verbessert werden. Für Unternehmen mit gebundenem Vermögen (vergleiche meinen Beitrag über diese Rechtsform im Blättchen 11/2021) soll eine geeignete Rechtsgrundlage geschaffen werden, die Steuersparkonstruktionen ausschließt. Hemmnisse beim Zugang zu Finanzierung und Förderung sollen abgebaut werden. Bestehende Benachteiligungen von gemeinwohlorientierten Unternehmen gegenüber anderen Unternehmensformen sollen systematisch beseitigt werden. Schließlich werden die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen, um Guthaben auf verwaisten Konten zur Förderung des Gemeinwohls nutzen zu können.“ Konkreteres zu dieser Strategie ist zwar nicht ausgeführt, aber das ist nach wenigen Wochen im Amt vielleicht auch nicht zu erwarten. Eine Stärkung gemeinwohlorientierten, nicht auf Profit ausgerichteten Wirtschaftens und solidarischer Wirtschaftsformen wie den Commons – dieser Begriff fällt im Bericht freilich nicht – wäre aber gleichwohl ein begrüßenswerter Schritt.

Die Heinrich-Böll-Stiftung, die der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahesteht, hat Forschungen dazu seit Jahren unterstützt und bemerkenswerte Arbeiten und strategische Ansätze publiziert, die breiten Widerhall im linken Spektrum fanden. Ob eine solche Strategie mit einem SPD-Kanzler und FDP-Ministern für Finanzen und Justiz tatsächlich konkretisiert und durchgesetzt werden kann, scheint mir zwar fraglich, bleibt aber abzuwarten. Nur am Rande sei erwähnt, dass Genossenschaften mit Selbsthilfecharakter und ohne privates Gewinnstreben in Italien verfassungsrechtlich ausdrücklich zu fördern und zu begünstigen sind.

Interessant ist ein „Sonderkapitel“ mit einem Gegenstand, der in früher vorgelegten Berichten überhaupt keine Rolle spielte. Es geht um jene Dimensionen der Wohlfahrt, die im Bruttoinlandsprodukt nicht erfasst werden können und denen dessen Wachstum sogar widersprechen kann: „Wir wollen auch einen offenen Diskurs darüber führen, was Wohlstand und Lebensqualität langfristig wirklich ausmacht, wo sich Nachhaltigkeit und Wachstum ergänzen können und wo Abwägungen getroffen werden müssen. Diesen Diskurs stoßen wir mit diesem Jahreswirtschaftsbericht an. Erstmalig wird ein breiter Satz an Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitsindikatoren ‚jenseits des BIP‘ betrachtet […]“. Im Bericht wird zugegeben, dass dieser Diskurs seit langem geführt wird und dass im Rahmen der sogenannten Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie vom Statistischen Bundesamt schon seit einigen Jahren – zuletzt 2021 – Berichte über Indikatoren von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit jenseits des BIP veröffentlicht werden. Die Ergebnisse waren immer ziemlich ernüchternd. Im vergangenen Jahr wurde berichtet, dass von den konkreten zwölf Zielen (von insgesamt 72), die sich auf das Jahr 2020 bezogen, gerade einmal vier erreicht worden waren. Aber immerhin: Nunmehr finden diese Fragen und Indikatoren tatsächlich erstmals im Jahreswirtschaftsbericht Berücksichtigung. Es ist nur zu hoffen, dass sich das ganze Bohei nicht im Berichtswesen erschöpft. Auch die Armuts- und Reichtumsberichte konstatieren seit Jahren eine Zunahme der Ungleichheit auf nicht wenigen Gebieten, ohne dass sich dies ernsthaft in einer entgegenwirkenden Politik niedergeschlagen hätte. Das Problem der Armut findet im Bericht faktisch nur an einer Stelle einen Niederschlag. Weltweit hätte die „starke marktwirtschaftliche Orientierung“ zu deren Rückgang um eine Milliarde Menschen seit Anfang der 1990 Jahre geführt. Dass dies größtenteils auf die Entwicklung in China zurückzuführen ist, findet keine Erwähnung.

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Die medialen Reaktionen auf den Jahreswirtschaftsbericht stellen die Jahresprojektion der Bundesregierung in den Mittelpunkt. Deren zentraler Indikator ist wie eh und je das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Etwas anderes wäre dann doch zu überraschend gewesen. Das reale BIP würde demnach um 3,6, die Preise um 3,3 und die Erwerbstätigkeit um 0,9 Prozent wachsen. Gegenüber 2021 wird damit zwar eine höhere Dynamik erwartet, aber gegenüber früheren Äußerungen hat die Bundesregierung ihre Erwartungen doch beträchtlich gesenkt und liegt im unteren Bereich aller bekannten Prognosen. Die größten Risiken für diese Projektion lägen im weiteren Verlauf der Pandemie sowohl hierzulande wie im globalen Maßstab. Die Auswirkungen der Umsetzung des Koalitionsvertrags finden in der Projektion noch keinen Niederschlag, sie sollen erst mit der Erstellung des Regierungsentwurfs zum Bundeshaushalt 2022 konkretisiert werden. Das wird voraussichtlich im März der Fall sein. Das wird dann überhaupt eine erste Probe aufs Exempel sein, also darauf, wie ernst es der neuen Regierung um eine soziale und ökologische Nachhaltigkeit geht.