Am 27. Februar 1942 – schied Stefan Zweig in seinem Exilort Petropolis bei Rio de Janeiro aus dem Leben. Der Erfolgsschriftsteller, der einst als Repräsentant der Kulturnation Österreich galt, war zu einem von den Nationalsozialisten verfolgten und verfemten jüdischen Flüchtling geworden. Als er den Fall von Singapore und den Vorstoß der deutschen Truppen durch Libyen in Richtung auf den Suezkanal vernahm, schien ihm das die einzige Konsequenz seiner düsteren Hoffnungslosigkeit und Untergangsstimmung zu sein.
„In meinen Novellen ist es immer der dem Schicksal Unterliegende, der mich anzieht“, hat Stefan Zweig wissen lassen. Wer aber für den Einzelnen gegen die Masse eintritt, gerät unweigerlich in die Zerreißprobe von Macht und Ohnmacht. Hilfloses Ausgeliefertsein, das ist nicht nur das Thema seiner letzten großen Arbeit, der „Schachnovelle“ (1942), sondern das ist auch das Lebensgefühl Zweigs und der Grund seines Todesgefühls. Aber mit seinem großen erzählerischen Werk hat er auch das nachgewiesen: Nur wer sein Ich anzunehmen, sein Selbst einzubringen vermag, der wird auch dieses Selbst durchlässig machen können für andere. Immer wieder hat Zweig auf die Bedeutung des Buches als „Eingang zur Welt“ verwiesen. Denn der Leser durchdringt, so Zweig, „wunderbar vervielfacht, mit dem Seelenblick Unzähliger“ Zeit und Welt. Er kann jene „Seelenarbeit“ leisten, die uns heute so nottut, sich selbst zu finden und durchlässig zu machen für andere.
Schon Stefan Zweigs erste Novelle „Brennendes Geheimnis“ (1911) erweist sich als ein großer Wurf: Trotz des Fehlens realistischer Details werden hier die verworrenen Gefühle und ungestillten Sehnsüchte der Jugend der Jahrhundertwende eindringlich beschrieben. Der eifersüchtige Knabe, der unter der Liebelei seiner erotischen Mutter leidet und alsbald den verhassten Verführer attackiert, wird für sein Schweigen gegenüber dem Vater mit der ersehnten Mutterliebe belohnt. Eigentlich haben der Knabe und der Verführer der Mutter, der forsche Baron, das gleiche Verlangen: sie begehren die Mutter und Frau – ein Tabubruch, den Zweig auf zwei Figuren verteilt.
Hier zeigt sich schon ein Grundzug Zweigscher Erzählkunst: Differenzierte Innenansicht seiner Figuren, behutsame Einfühlung in ihre psychologischen Motive. In einer späteren Novelle „Der Amokläufer“ (1922) lässt Zweig den Erzähler sagen: „Rätselhafte psychologische Dinge haben über mich eine geradezu beunruhigende Macht, es reizt mich … Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch ihre bloße Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens entzünden…“ In einer merkwürdigen Verbindung von Sympathie und objektiver Distanz versucht Zweig, dem rätselhaften Verhalten seiner Erzählfiguren auf die Spur zu kommen und zu den Wurzeln ihrer Handlungen und ihrer Leiden vorzudringen. Meist sind die Gestalten einer dominierenden Kraft unterworfen. Eine einzige Leidenschaft, die allmählich ihre ganze Existenz bestimmt, setzt sich gegenüber allen anderen Gefühlsregungen, Bestrebungen und Zielen durch. Indem er eine exemplarische Zusammenschau verschiedener Monomanien vorstellt, gibt Zweig einen Überblick über ihre Formen, Erscheinungsweisen und Auswirkungen. Seine fiktive epische Welt sollte als Kosmos menschlicher Möglichkeiten im Sinne von Balzacs „Comédie humaine“ verstanden werden.
Im Mittelpunkt seiner Novellen steht die „sich ereignete unerhörte Begebenheit“ (Goethe), die dem Geschehen eine unvermutete Wendung gibt und die alltäglichen Vorgänge in ein fremdes Licht taucht, in eine neue, aufschlussreiche Perspektive rückt. Die Technik der unvollständigen und daher ergänzungsbedürftigen Information treibt die Handlung voran und schafft jene dramatische Spannung, die der Gattung der Novelle entspricht. Während in den frühen Novellen innerer Monolog und Dialog gegenüber dem reinen Erzählbericht vorherrschen, bevorzugt Zweig bei den späteren die Konfrontation von Rahmen- und Binnenerzählung, ein Verfahren, das zur Objektivierung und Distanzierung der erzählten Ereignisse beiträgt. Jetzt begegnen uns häufig ausführliche Rückblenden in der Form der Beichte, einer Lebensbeichte. Die meistens einsträngige Handlung ist in das Innere des Protagonisten verlegt und durch subjektive Wiedergabe emotional angereichert und perspektivisch getönt. Das Eingeständnis gegenüber Dritten, das in der Umsetzung vergangener Handlungen ins Wort den Charakter psychoanalytischer Bewusstmachung annimmt, gehört zu den Konstanten in Zweigs späterer Prosa – so im „Brief einer Unbekannten“ (1922), wo die anklagenden Töne sich vordrängen, oder in den „24 Stunden aus dem Leben einer Frau“ (1925), wo die Befreiungsgeste ganz in die Aussprache vor einem fremden Zuhörer verlegt ist. Die pathologische Abhängigkeit des jungen Spielers von den Casino-Tischen wird hier fast ausschließlich durch die Bewegung seiner Hände vermittelt. In krampfhafter Spannung drückt er sie im Augenblick des Verlustes zusammen, dann lösen sie sich „wie zwei Tiere, die eine einzige Kugel durchschossen“ hat und liegen endlich „auf dem grünen Tisch wie ausgeworfene Quallen am Wasserrand, flach und tot“.
Auf diese zwei Spielerhände starrt eine britische Lady – der junge Mann könnte ihr Sohn sein, ein Verlierer, den sie retten möchte. Sie verliert sich aber selbst im Bett eines schäbigen Hotels, so ihr atemberaubend erzähltes Geständnis, das sie ein Vierteljahrhundert später berichtet, als sie und der Ich-Erzähler an der französischen Riviera Zeugen eines erregenden Skandals werden: Eine untadelige Frau verlässt über Nacht ihren Mann und zwei Kinder und ist mit einem wildfremden jungen Mann auf und davon. Wir haben es hier mit einer kunstvoll verschachtelten Novelle, einer unerhörten Begebenheit zu tun.
In seinem brasilianischen Exilort Petropolis spielte Zweig mit seiner zweiten Frau Lotte Meisterpartien aus einem Schachbuch, das er gekauft hatte, was der Bearbeitung der „Schachnovelle“ (1942) diente, die er gerade entwarf. Diese Novelle spielt an Bord eines Passagierdampfers auf der Nord-Süd-Reise in der Neuen Welt, hat aber eine Binnenhandlung im Wiener Hotel Metropole, das die Welt von gestern repräsentiert, doch der Gestapo als Hauptquartier dient. Hier verbüßt jener Dr. B., der aus „einer hochangesehenen altösterreichischen Familie“ stammt, seine Isolationshaft, und zwar mit einem heimlich entwendeten Schachbuch, einer „Sammlung von 150 Meisterpartien“, die er nun gegen sich oder mit sich selbst austragen muss. War ihm das Spiel mit den aus Brotkrümeln geformten Schachfiguren zunächst ein Mittel gegen die erdrückende Monotonie des Raumes und der Zeit, so führt das permanente Doppeldenken zu einer Bewusstseinsspaltung Er verfällt in Wahnsinn, wird aus der Haft entlassen und kann auf einem Schiff flüchten. An Bord ist auch der Schachweltmeister Mirko Czentovic, jener „unmenschliche Schachautomat“ mit den präpotenten Zügen eines Miniatur-Hitlers, der nur mit einem Brett vorm Kopf spielen kann. Zwischen beiden kommt es zum erbitterten Zweikampf, zum Zusammenprall der Gegensätze: zuerst der allen Zuschauern unbegreifliche Sieg des Dr. B., weil dieser viel schneller kombiniert als sein routinierter Gegenspieler, dem Nachdenken eine geradezu physische Anstrengung verursacht. Aber dann folgt die Revanche bis zum neunzehnten Zug, bei dem die Welt endgültig auseinanderbricht: Czentovic ermüdet und irritiert den Gegner durch seine Langsamkeit, er hält sich an die sichtbare Konstellation auf dem Brett, Dr. B. denkt sich jedoch in den Wartezeiten schon wieder eine andere und unsichtbare Partie aus, findet deshalb nicht mehr zum Spiel zurück – Abbruch des Zweikampfes, ein offenes Ende, das niemand anderes als der Autor beschließt.
Wie ein kariertes Schachbrett spaltet sich in dieser ergreifenden Novelle das Selbst des Protagonisten „in ein Ich Schwarz und ein Ich Weiß“, die gegeneinander spielen bis zur totalen Vernichtung der eigenen Identität.
Zweigs Erzählungen überzeugen in der Beschreibung der unter der Oberfläche des täglichen Lebens verborgenen Leidenschaften. Diese Kraft verdanken sie entweder dem Umstand, dass sie in der Ich-Form geschrieben sind, oder der Tatsache, dass bei der Verwendung der dritten Person als Erzähler scheinbar eine Identifizierung des Autors mit dem Helden besteht. Der Leser kann erkennen, wie wahrheitsgetreu Zweig die Grenzen des Unbewussten zu umreißen verstand, und er glaubt zu meinen, dass der Autor hier persönliche Erfahrungen enthüllt habe, ein Trugschluss, da seine Novellen so gut wie überhaupt kein autobiographisches Material enthalten. Aber gerade die persönliche Nähe schafft eine Aura der Intimität.
Wie sagt der Ich-Erzähler in der Novelle „Verwirrung der Gefühle“, als er gleich zu Beginn ein Buch liest, das ihm gewidmet ist: „Von jenem Geheimsten meiner geistigen Lebensentfaltung weiß jenes Buch kein Wort: darum musste ich lächeln. Alles ist wahr darin – nur das Wesenhafte fehlt. Es beschreibt mich nur, aber es sagt mich nicht aus. Es spricht bloß von mir, aber es verrät mich nicht“.
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