25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Zur Lust der Künstler am Überleben

von Detlef Jena

Armer Poet, du wirst viel weinen müssen, heute Nacht …“ singt ein beliebter Schlagerstar mit der ihm eigenen rauen Stimme, aber durchaus pointiert kulinarisch gestylt. Was ist da schiefgelaufen? War er krank, besaß er kein Geld oder gar kein Talent, genoss sein Psychologe wieder einmal die Sonne auf den Malediven? Wohl nichts davon! Sein PR-Manager wird ihm beigebracht haben, dass die Klage nur eventsüchtigen Teens oder älteren Damen Tränen in die Augen treiben darf. Denn die traurige Botschaft könnte sonst mit viel Weitsicht und solidem Geschichtswissen auch als moderne Interpretation des „Armen Poeten“ von Carl Spitzweg verstanden werden. Der Maler hatte einst mit bittersüßer Ironie das leidvolle Schicksal von Künstlern jeder Couleur in Krisenzeiten und überdies auch noch zweifelnd an der eigenen säkularen Sendung abgebildet. Der freie Markt bietet ja so viele Möglichkeiten zu farbenfrohen Phantasien und gerade dieses Thema ist ort- und zeitlos. Lag nicht in der Variante Spitzwegs ein sehr verblümter, künstlerisch gelungener Hinweis darauf, dass die wahre Spaltung einer Gesellschaft nicht im Verschleiß biedermeierlicher Matratzen durch notleidende Poeten liegt? Wer weiß das schon!

Weit direkter war Weimars genialer Komponist Johann Nepomuk Hummel. Er begründete im 19. Jahrhundert die mindere Qualität seiner Hofkapelle damit, dass die Musiker nicht einmal das Geld bekamen, sich einen ordentlichen Anzug für ihre öffentlichen Auftritte kaufen zu können. Doch die Zeiten wandeln sich auch in Thüringen, manchmal sogar zum Guten! Da geht es beispielsweise heute dem inniglich mit Weimar verbundenen großen deutschen Charakterdarsteller Thomas Thieme selbstverständlich weit besser. Er muss lediglich die Endlosschleife feinsinnigster Abfrage-Interviews in der Thüringischen Landeszeitung aus Popularitätsgründen tapfer und ohne Drehbuch mit humoriger Schlagfertigkeit würzen. Das Blatt dankte ihm allerdings den selbstlosen Einsatz jüngst nicht besonders fröhlich oder gar durch den Stolz darauf, einen so bedeutenden Mimen bis ins Mark ausforschen zu dürfen. Seine bravouröse Darstellung Bismarcks im „Kaiserspiel“ des ZDF wurde mit dem mäkelnden Verdikt versehen, dass Thiemes Bismarck „kein spannender Spielfilm“ ist, sondern „nur eineinhalb konventionelle Geschichtsstunden“ zelebriert. Kaum zu glauben! In einer Gesellschaft, in der das Geschichtsbewusstsein der Menschen nach Ansicht professioneller Historiker dank Marktwirtschaft und ihrer „spannenden Filme“ mit Handelswarenesprit als bis zur Unkenntlichkeit verkürzt gilt, kann eine solche „konservative“ Geschichtsstunde selbst bei kritischem Blick auf ihre besondere didaktische Raffinesse nicht mit Gold aufgewogen werden.

Nun ja, die derzeit grassierende Pandemie verschärft offenbar selbst bei honorigen Journalisten durch profitorientierte Abhängigkeit einige Missverständnisse. Da rückt man der eigentlichen Gesellschaftsspaltung in Arm und Reich eben ganz unfreiwillig etwas näher.

Aber auch größte Musikkunst hat es in einer trivialen Welt mitunter sehr schwer, zumal, wenn kriegerische Zeiten die Interessen der Geld spendierenden Mäzene ablenken, wenn die Kunst der Attacke höher bewertet wird als die der Fuge. Ludwig van Beethoven konnte davon ein grobes Liedlein summen, ohne dass Pandemien das Dasein belasteten. Natürlich, auch als über den Alltag erhabener Künstler sollte man gelegentlich einen Gedanken daran verschwenden, wann welches Werk besonders günstig in Szene gesetzt werden kann. Man ist da ja nicht alleine. Kurz und gut: Beethovens Befreiungsoper „Fidelio“ hatte einen schweren Lauf. Der Sinn dieser Oper muss dem gemeinen Bildungsbürger heute nicht mehr erklärt werden. Liebe, Treue und weibliche Emanzipation korrespondieren mit dem Wunsch nach Freiheit aus geistiger, körperlicher und sogar sexueller Gefangenschaft und Unterdrückung. Die erhabenen Werte sind längst in das Grundgesetz eingeflossen, dem Bundesbürger dementsprechend relativ heilig und gelten manchem Politiker sogar als „wertorientiert“ exportfähig. Ja, in pandemischen Zeiten neigen die Begriffe schon wieder zu abstrusen Mutationen.

Beethoven brachte die Oper „Fidelio“ zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt auf den Markt. Die Premiere fand im November 1805, unmittelbar vor der Schlacht von Austerlitz, im Theater an der Wien statt. Napoleon hatte die Kaiserstadt der Habsburger bereits besetzt, den Wienern stand zum Augenblick nicht der Sinn nach großer Oper, die erlebten sie täglich auf den Straßen. Nur einige französische Besatzungsoffiziere besuchten die Premiere. Sie hatten im Pulverdampf jedoch vergessen, dass sie einst mit dem Wunsch nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Paris aufgebrochen waren. „Fidelio“ verewigte nicht den Ruhm des kleinen Kaisers aus Korsika – also weg damit!

Beethoven gehörte zu den verqueren Intellektuellen, die, wenn eines ihrer Werke durchfällt, selbstzerstörerisch glauben, die eigene Leistung sei mangelhaft gewesen. So war er eben und machte sich unverdrossen aber überstürzt an die Sanierung des Manuskripts. Bereits 1806 sollte „Fidelio“, erweitert durch die geniale „Leonoren-Ouvertüre“ neuerlich herauskommen. Zank, Streit und die unruhigen Jahre verhinderten den Plan. „Fidelio“ geriet überdies langsam in Vergessenheit. Eine Wiederentdeckung im Jahre 1809 scheiterte an der Kanonade von Wagram. Beethoven musste warten – warten auf das Ende der Kriege, auf eine Zeit, da europäische Freiheitsgesänge den Trommelschlag der schlachtbereiten französischen Korps übertönen würden.

Diese Zeit kam und es fand sich der passende Rahmen – sogar in Wien selbst. Die europäischen Völker hegten tatsächlich die große Illusion, der Wiener Kongress 1814/15 würde dem antinapoleonischen Freiheitskrieg eine diplomatisch-politische Krone aufsetzen. Da schlug nun auch die Stunde des „Fidelio“. Beethoven wandte all sein großes Können auf und die Oper wurde und blieb ein Meisterwerk der Musikliteratur. Die Opernfreunde, die die Premiere am 23. Mai 1814 im Wiener Kärntnertortheater erlebten, konnten mit Recht begeistert sein. Beethoven arbeitete wie besessen, nahm ständig Veränderungen vor, korrigierte und verbesserte. Mit jeder Aufführung geriet das Werk vollkommener.

Doch das ist die Tragik der Geschichte: Die Oper reflektierte den Freiheitsdrang des Menschen und wurde zum geistigen und künstlerischen Triumph, bevor der Wiener Kongress im Oktober 1814 begann. Der Kongress selbst instrumentalisierte die Oper. Davon zeugt nicht nur die Tatsache, dass das Werk während des Kongresses 15 Aufführungen erlebte. Man nannte „Fidelio“ die „eigentliche Festoper des Wiener Kongresses“. Recht so: Am Tage feilschten Diplomaten und Monarchen um Territorien, Seelen, Kontributionen und die Wahrung des status quo ante – am Abend in der Oper delektierten sie sich an der Kunst und dem Geist der Freiheit.

Man kann Beethoven nicht nachsagen, dass er die kommerzielle Gunst der Stunde nicht erkannt und weidlich zu eigenem Nutzen ausgebeutet hätte. Die Monarchen Europas durften sich zahlreicher Werke des Meisters erfreuen, die er ihnen persönlich widmete. Darüber freute sich der russische Kaiser Alexander I. ebenso wie sein königlich-preußischer Bruder Friedrich Wilhelm III. Später sagte Beethoven über den Kongress, er selbst „habe sich von den hohen Häuptern die Cour machen lassen und sich dabei stets vornehm benommen.“ Kunst und Politik, hier trug einmal jeder den Nutzen davon, das war damals sehr populär. Den letztlichen Gewinn hatte die Musikgeschichte.

Übrigens: Die heitere Episode, dass sich Goethe im Juli 1812 im Park von Teplitz am Wegesrand devot vor den kaiserlichen Majestäten Österreichs verbeugte, während Beethoven forsch mit erhobenem Haupt den Angriff suchte, ist die reine Erfindung der neidischen und zänkischen Dichterkollegin Bettina von Arnim – in einer Zeit voller Nöte. Doch das tendiert schon eher in Richtung der Nibelungen Not.