25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Flaubert. Geboren in Rouen am 12. Dezember 1821

von Heinrich Mann

Den folgenden Artikel veröffentlichte das Berliner Tageblatt vor hundert Jahren, einen Tag vor dem Geburtstag Flauberts. Heinrich Mann hatte seine eigene Auffassung von schriftstellerischer Arbeit in der kritischen Auseinandersetzung mit den Werken Flauberts entwickelt, am umfassendsten 1905 in dem großen Essay „Eine Freundschaft. Gustave Flaubert und George Sand“. Werke und Briefe des großen Franzosen besaß er in über dreißig Ausgaben; noch im USA-Exil schaffte er „The Best Known Works of Gustave Flaubert“ in dem wenig geliebten Englisch an. Auch zweihundert Jahre nach Flauberts Geburt hat seine Sicht auf diesen Autor Bestand.

Wolfgang Klein

I.

Flaubert ist hundert Jahre alt. Als die ersten von uns Deutschen sein Gesamtbild erfaßten, war er siebzig. Die Gesellschaft, die er dargestellt hatte, war fast noch da; sie drang, wenn wir ihn lasen, wie aus den Jugendtagen unserer Eltern zu uns vor. Das Lebensgefühl aber, an das er rührte, war das unsere, ja eben unseres … Heute ist es weniger häufig unseres, und seine Gesellschaft rückte tiefer in die Geschichte.

Er war Soziologe, wie Balzac. Er sah kein einzelnes Liebesleid ohne ein ganzes System menschlicher Abhängigkeiten, worin als Kraft auch jene Liebe wirkte. So gern er sich der Einsamkeit ergab, den Menschen fand er nie allein.

Er behandelte, obwohl seine reifen Veröffentlichungen erst 1856 begannen, eine Zeit, die Balzac nahe war, oft sogar in die seine zurückfloß. Dennoch, welch ein Abstand im Wesen der Dinge! Die Ideen färbten es völlig anders bei Flaubert.

Balzac ist die literarische Auswirkung Napoleons. Diesmal war die handelnde Persönlichkeit früher da als ihr Dichter. Balzac hat dem bürgerlichen Jahrhundert, das durch Napoleon freies Spiel bekam, einen Lauf und Ausgang vorhergesagt, von dem der Bahnbrecher noch nichts ahnte. Napoleonisch bleibt gleichwohl das Grundgesetz seiner Welt: handeln. Ein kühnes Abenteuer das Leben. Schlauheit, Kraft und weites Gewissen regieren den Erfolg; der Schwache stirbt an dem Wege, den die Armee der Daseinskämpfer zieht. Schönheit ist vor allem Kraft. Der Starke nur rechtfertigt das Leben.

Bei Flaubert rechtfertigt es selbst sich, es sei wie immer. Wohl rinnt es vergebens dahin. Kraftverbrauch, Geldverbrauch; viel ergebnisloses Hinundher, viel unfruchtbare Schmerzen der Seele, Aufflüge des Geistes, Kämpfe der Leidenschaften, – aber durch alle Nichtigkeiten unwandelbar hinströmend, einzig des Daseins würdig, ein reines Gefühl. So die Education sentimentale, der Lebensextrakt Flauberts. – Und auf dem Lande im stillen eine arme Kleinbürgerfrau; sie ist verbildet, will hoch hinaus, betrügt mehrfach ihren Mann, macht Schulden, und hat, als sie endlich Gift nimmt, alles hinter sich, was Drang des Fleisches und der Seele, rastlose Sehnsucht, rastlose Angst, und Haß auf die Umwelt und Verachtung des ganzen Betriebes und Verzweiflung und Reue – hat demnach alles hinter sich, was Leben heißt und in ein Herz hineingeht. So ist Madame Bovary, das Hauptwerk.  Stimmungen des Abstiegs; als ob jemand schriebe, der übergenug gelebt hätte: nicht einer wie Balzac, der nie genug Leben haben konnte und darum welches schuf. Einer wie Balzac geht in seiner Jugend durch einen Zeitraum allgemeiner Hoffnungslosigkeit, wie die nächsten fünfzehn Jahre nach Napoleon, und merkt es kaum, in seiner Zuversicht. Wozu benutzt er später diese miterlebten Jahre? Damals gab es, zur besseren Unterdrückung der vorgeschrittenen Zeitgenossen, eine geheime Polizei; sie lieferte Balzac seine spannendsten Erfindungen, oder was wir dafür hielten. Erst im Kriege und nachher erfuhren wir, wie echt dies sei, und daß Balzac, seinem Grundgesetz treu, nur wieder ein erlebenswertes Abenteuer gemacht habe aus den niederdrückendsten Vorgängen. Napoleonische Beschwingtheit half ihm auch über die versumpfenden Epochen.

Flaubert haftete in der seinen, er sah sie, wie sie war, und verzichtete darauf, sie zu ändern. Das Auge geschärft, die Schwingen des Willens beschnitten: ihm blieb enttäuschte Weisheit. Seine Jugend, noch ganz erfüllt von dem romantischen Ueberschwang, der aus dem großen Jahr 1830 nachwehte, brach ab, als 1848 übel ausging. Die geistige Jugend seiner Jahrgänge hatte einen falschen, weil unzeitgemäßen Anlauf genommen. Der bürgerliche Aufstieg war damals schon beendet. Die ideellen Fähigkeiten der Klasse waren schon erschöpft. Ihr erübrigte nur, die durchgesetzten Ideale zu Geld zu machen. An der Tagesordnung waren nicht Freiheit, nicht Humanität und literarischer Geist, sondern die Macht.

In Augenblicken solcher geistigen Erschlaffung gründen sich die starken Militärreiche. Die Militärreiche sind durchweg glänzend und tun, als könne es ihnen nie fehlen. So pflegen auch die Zeitgenossen sich selbst zu empfinden – nur nicht die Literatur. Die Literatur der Militärreiche erscheint unbeeinflußt vom Glanz der Siege, der Bauten und Aufzüge, der riesigen Geldgewinne; sie ist blind gegen die Fassade. Viel eher ist es eine Literatur der armen Leute, der Leidenden und des Verfalles; viel eher eine Literatur der düsteren Vorhersagungen, der steilen Uebersteigerungen, des Hohns. Wenn die Militärreiche lesen könnten, was sie natürlich nicht können: vor ihrer Literatur müßten sie erblassen, darin steht ihr Tod.

Sie verdanken wenigstens dem Instinkt der Einfalt die ausgemachteste Abneigung gegen ihre Literatur – und betätigen sie. Auch Flaubert mußte vor Gericht, Madame Bovary übertrieb jeden erlaubten Realismus. Denn die sogenannten Nachtseiten darzustellen, heißt bei denen, die an der Sonne weiden, Realismus, – als ob gerade die Teilnehmer der glänzendsten Gesellschaften sich heimlich bewußt wären, daß die größere Wirklichkeit nicht glänzt wie ihre Fassade … Flaubert mußte vor Gericht; sein Anwalt errang einen Freispruch, der damals wohl niemand überzeugt hat. Viele Jahre später sagte der Erzbischof von Paris zu Dumas fils, der Madame Bovary „hübsch“ nannte: „Es ist ein Meisterwerk! Der weiß es, der in der Provinz die Beichte gehört hat.“

Als aber Madame Bovary verboten werden sollte, war kein Erzbischof da, sie zu schützen. Die Zeitgenossen seines Erscheinens sehen in jedem der großen Moralbücher eine unerlaubte Lektüre. Sie glauben merkwürdigerweise, es sei so interessant, sie zu entlarven und peinliche Anekdoten auf ihre Kosten zu erzählen. Darüber entgeht ihnen ganz, daß, durch ihre dummen Streiche hindurch, das Bedauern um den Menschen und die Verpflichtung der Erkenntnisse das Buch bestimmt haben. Noch schlimmer finden sie den Fall, wenn das Buch schön ist. Kunst, an einen Roman, der ihr schlichtes Leben enthält, gewendet, ist, ihnen zufolge, nichts als ein Alibi für die Skandalsucht des Verfassers. Wie sie ihn kennen!

II.

Flaubert dachte an nichts als die Kunst seines Wortes; sie war Ausgang und Ziel. In der Mitte lag der Stoff, Gebirge menschlicher Tatsachen, belachenswerter, beweinenswerter, die ganze wirre Welt auch des eigenen Herzens. Aber die Welt war urbar zu machen, das Gebirge zu behauen, bis endlich in einer Schönheit, die von den Qualen oder Verzückungen des Meisters nichts mehr ahnen ließ, der Tempel dastehen sollte – der Tempel ohne Gott, die Form an sich.

Man hat gesagt: wie kalt! Er schreibt eine Salambô von opernhafter Gestaltung, ganz nur Geste, nur lang hinrollendes Echo; einen Heiligen Antonius, wo alles Schrulle und Stil ist! Später sahen einige: hier ist, in aller Kunst, sein Herz, für das er eine Ausflucht suchte. Der Tempel steht nicht leer … Sein Herz drohte immer, die kleine Welt des Jahrhunderts zu sprengen; er gab ihm Spielraum in den alten Zeiten, seinem romantischen, rauschsüchtigen, schweren und regellosen Herzen. Es schlägt nun in den Fabelwesen, die den heiligen Literaten versuchen, in dem seltsamen Gespenst der zirpenden, hüpfenden Königin von Saba. Durch sein Herz beherrscht er ganz Afrika, das Volk Karthagos, die Söldnerheere und Elefanten der Stadt und auch die Wüste und auch die Tochter Hamilkars. Ihr Sein und Atmen gleicht der Wüste, die verbrannt ist, durch die die Bestien schleichen, und die nach Quelle und Duft der Oasen stöhnt … Wer aber gleicht der überfeinerten Barbarin Salambô, wenn nicht die Frau des Landarztes, Madame Bovary.

Sie sind Schwestern. Flaubert lebte in beiden – so vollkommen, mit solch halluzinatorischer Vollkommenheit, daß er auch von den anderen hätte sagen können, was die eine ihn sagen ließ: „Ich gehe auf den Ball, dann verbringe ich einen regnerischen Winter und werde schließlich schwanger.“ In der nordfranzösischen Landschaft, in dem brennenden Schoß Afrikas: dieselbe unvergängliche Sehnsucht, dieselbe schlimme Welt des Moloch oder der menschlichen Härte, dieselbe Trauer um das Leben, zugleich mit seiner Feier.

Hier ist er ganz. Er hat die Menschen seiner Zeit so feierlich genommen, wie Schatten der Vorzeit genommen werden. Er tat es im Namen der Kunst, des überzeitlichen Seins, auf das alle Zeiten, alle Menschen ihr Anrecht haben. Vor Augen hatte er armselige Versager, karge Bürgerlichkeiten unter dem Schutze eines Säbels. Er machte sich nichts vor – und erwies ihnen dennoch die hohe Ehre, ihr bißchen Trieb der unvergänglichen Sehnsucht gleichzustellen, die sonst wohl Halbgötter der Geschichte durch tote Welten tragen. Nicht größer, opferreicher, ewiger ist Helena selbst geliebt worden als eine Madame Arnoux. Welcher Held des Altertums kehrt wieder in jenem epischen Ritt bei Nacht, durch schwarzes Verhängnis und wetterleuchtende Angst: im Ritt des alten Rouault zu seiner sterbenden Tochter Emma Bovary? An welcher Stelle der Mythen erscheint doch die alte Magd, die auf einer Festversammlung, zwischen Tier und Mensch, ein Bild des lebenlangen Dienens, ihre Denkmünze hinnimmt und zurückkehrt zur Arbeit?

Er hat das Leben geheiligt. Soviel sie ihm schuldig blieb, er vergrößerte und verklärte auch seine Zeit. Stimmungen des Abstiegs: sie würden uns nicht immer verlocken und gerade heute nicht mehr, – aber die Wucht dieser Sprache verleugnet jeden Verfall und hält ihn auf. Noch die Grotesken der damals Lebenden sind aufbewahrt in seinem Wort wie in Erz. Seine Sprache sagt: wie bitter, wie groß! Hier handeln, leiden und erliegen Menschen, also Helden, – indes für jeden anderen nur Bürgersleute, die Geld erjagt und sich verzettelt hatten, dahingingen und vergessen wurden. Das Geheimnis des Außerordentlichen ist: den Menschen, jeden Menschen für außerordentlich zu halten. Ihm mißtrauen, gewiß. Unter ihm leiden, erbittert ihn bessern wollen, gewiß. Aber doch an seine Zukunft glauben und die Mythen seiner vergangenen Größe ernst nehmen als Sinnbilder seiner Zukunft.

Die Sprache Flauberts hat den letzten Ernst des Lebens: so ist es die Sprache derer, die Gott vor Augen hatten. Der erhabene Tonfall des Bischofs Bossuet ertönt; und nicht der große Condé, nur eine arme Ehebrecherin hat geendet. Aufrauschen Liebesworte der Aermsten; und keine rauschenderen fand Châteaubriand für den Geist seines Christentums.

Flaubert war lebenslänglich überzeugt, daß die Form auch das Wesen und der Stil, bis zum äußersten erarbeitet, die ganze Wahrheit sei. Schönheit lüge nicht. Dauer habe das Vollkommene allein … Für junge Schriftsteller, die an Sendungen glauben, ist kein Autor so sehr des Studiums würdig wie Flaubert. Von ihm erlernen können sie Rhythmen, Pausen und das unaufhaltsame Loslegen; das diktatorische Erz der Stimme und ihr Harfen, ihr Geschluchz. Aber tiefer greifend werden sie zu verstehen beginnen, wie sehr die Schauspielerei der Sprache sich deckt mit dem Sinn des Lebens, und daß es die Seele ist, die ihr Instrument sich erschafft.

Schüler Flauberts sollten nicht nur die Schriftsteller sein, sondern alle: ohne Unterschied der Sprache. Unsere europäischen Sprachen sind nicht sehr verschieden, da unsere Art, zu fühlen und zu wollen, es so gut wie gar nicht ist. So viel wäre in jedem wohlverstandenen Unterricht empfindbar zu machen, daß der Humanismus wenige Beispiele hat gleich dem klingenden Organismus der Sätze, die Flaubert schrieb. Sie sind laut zu lesen, so las er selbst sie.

Er saß in seinem einsamen Zimmer, am Fluß, nicht weit vom Meer; schrieb vom Nachmittag bis in den Morgen an einer einzigen Seite – und las sie immer wieder laut: prüfend, ob nichts in ihr hemme oder falsch klinge, ob alles übereinstimme mit den Bedingungen der Natur. So las er auch seine Meister; Worte und ganze Abschnitte aus ihnen sagte er, donnernd und zu Tränen entzückt, seinen Freunden her. Er war groß und breit, mit dem hängenden Schnurrbart des gallischen Kriegers und das Gesicht von Nachtwachen gerötet. Er liebte gutes Essen und derbe Späße, er blieb im Leben lange jung, wie alle die, deren wahres Leben in ihrer Kunst vergeht. Er genoß Paris, die Gastmähler mit den Freunden, die Premieren, Frauen, sogar den kaiserlichen Hof. Seines Bleibens war selten lange in der geliebten Hauptstadt, der seine Werke huldigten, und unter deren riesenhafte Arbeitsleistung auch die des Entfernten sich mischte. Er kehrte zurück nach dem ehemaligen Kloster, das sein Haus war, und zog die Kutte an, in der er schrieb.

Zuletzt war diese Rückkehr Qual, und die Einsamkeit lastete. Den Gealterten kam Furcht an, als habe er, indes er mit Worten kämpfte, versäumt, was der Durchschnitt wortlos erlebt. Versucht vom Selbstverrat, überreizt bis zur Unfähigkeit, mit Menschen auszukommen, unglücklich durch die schlimmen Wendungen seines eigenen äußeren Geschickes und der Geschicke des Landes, starb er. Aber er fiel neben seinem Schreibtisch hin, noch heiß vom Kampf und vollendet wie sein Werk.

Seine Klage war gewesen: „Ach! Literaten, die wir sind. Die Menschheit ist weit von unserem Ideal!“ Aber sein Halt: „Um dauerhafte Werke zu schaffen, darf man über den Ruhm nicht lachen.“ Denn er lachte nicht über den Ruhm. Um seinetwillen achtete er die Nachwelt, die ihn zu vergeben hat, die Menschen, die doch weit waren von seinem Ideal.