25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Doppelter Standard beim Pestizid-Export

von Peter Clausing

Pestizide sind biologisch hochaktive Substanzen, deren Zweck darin besteht, Lebewesen – unerwünschte Insekten, Pflanzen, Schimmelpilze – in ihrer Entwicklung zu hemmen oder sie zu töten. Es ist einleuchtend, dass aus den Eigenschaften solcher Stoffe auch Gefahren für Mensch und Umwelt erwachsen – Gefahren, die von der Pestizidindustrie seit Jahren mit dem Slogan des „Safe Use“ (sichere Anwendung) verharmlost werden.

Zugleich ist die Tatsache, dass der Begriff „hochgefährliche Pestizide“ von der Welternährungsorganisation (FAO) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht nur offiziell anerkannt, sondern auch klar definiert wurde, der agrochemischen Industrie ein Dorn im Auge. Laut FAO und WHO sind hochgefährliche Pestizide unter anderem solche, die sich entweder durch eine hohe akute Giftigkeit auszeichnen (WHO-Kategorie 1A/1B), oder solche, von denen eine ernsthafte Gefahr der Verursachung von Langzeitschäden ausgeht. Das Problem ist die fehlende Kopplung dieser klar formulierten Definition von hochgefährlichen Pestiziden an ein globales Verbot. In der Europäischen Union hingegen wurde mit der Pestizidverordnung 1107/2009, die im Juni 2011 in Kraft trat, im Prinzip verboten, Pestizide zu vermarkten, die beim Menschen erwiesenermaßen (Kategorie 1A) oder wahrscheinlich (Kategorie 1B) bestimmte Langzeitschäden hervorrufen.

Von den derzeit 454 in der EU genehmigten Wirkstoffen sind nur neun Substanzen als WHO 1A/1B kategorisiert und bei drei weiteren ist 1A/1B für Langzeitschäden vergeben. Das Beispiel Glyphosat zeigt, dass EU-Behörden sich bemühen, mit verschiedenen Tricks solche Klassifizierungen zu verhindern, doch trotzdem sind in der EU inzwischen 151 dieser hochgefährlichen Pestizidwirkstoffe verboten. Hinzu kommen Wirkstoffen, die aus Umweltschutzgründen nicht mehr vermarktet werden dürfen. Dass Pestizide, die in der EU verbotene Wirkstoffe enthalten, hier produziert und anschließend exportiert werden, steht als „doppelter Standard“ in der Kritik.

Das ist ein veritabler Skandal, denn in Afrika, Asien und Lateinamerika sind Schutzmaßnahmen für die Anwender von Pestiziden (in Form von Arbeitsschutzkleidung) und für die Landbevölkerung (in Form von Abstandsregeln oder eines Verbots der Pestizidausbringung mit Flugzeugen) nicht vorhanden oder aber völlig ungenügend. In der Folge kommt es nach jüngsten wissenschaftlichen Schätzungen derzeit zu etwa 385 Millionen unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen pro Jahr, von denen ungefähr 11.000 tödlich verlaufen. Das ist ferner ein Indiz für eine unbemerkte, aber im Vergleich zur EU-Bevölkerung sehr hohe Dauerbelastung durch Pestizide – was ein entsprechend höheres Risiko von Langzeitschäden bedeutet.

Die letzte globale Schätzung zu unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen liegt 30 Jahre zurück, wurde damals im Auftrag der WHO durchgeführt und belief sich auf 25 Millionen Vergiftungsfälle pro Jahr. Die tatsächliche Zahl der Vergiftungsfälle wurde damals offenbar stark unterschätzt. Hinzu kommt ein Anstieg der global ausgebrachten Pestizidmenge um 80 Prozent in den letzten 30 Jahren, wobei diese Steigerung nicht gleichmäßig verteilt ist. Bei nahezu unveränderter Menge in Europa stieg sie in Südamerika um mehr als das Fünffache. Und Afrika wird seit einigen Jahren verstärkt von der Pestizidindustrie „erschlossen“ – Wegbereiter ist die „Alliance for a Green Revolution in Africa“. Die Pestizidindustrie gleicht so ihre Umsatzverluste durch die Vermarktungsverbote in der EU wieder aus.

Am 27. April 2021, dem Tag der Aktionärsversammlung von Bayer, erschien ein Bericht zu diesen Doppelstandards von Bayer und BASF. In der Studie wurden unter anderem acht Pestizide identifiziert, die in der EU wegen ihrer 1B-Klassifizierung bei Langzeiteffekten verboten sind, aber von Bayer oder BASF etwa in Brasilien, Mexiko und Südafrika vermarktet werden. Allerdings geht die Kritik an den Unternehmen darüber hinaus. Unternehmensquellen zufolge sind derzeit nur noch 18 Prozent der weltweit vermarkteten Pestizide patentrechtlich geschützt. Dabei gehen 25 Wirkstoffe, die wegen ihrer akuten Giftigkeit von der WHO als hochgefährlich eingestuft sind, auf Bayer, BASF oder ein von ihnen aufgekauftes Unternehmen zurück. Mit dem Beginn der Vermarktung solcher Pestizide wurde von den Unternehmen, denen die extreme Giftigkeit dieser Substanzen von Anbeginn bekannt war, die Büchse der Pandora geöffnet, und nun geistern diese Giftstoffe, oftmals unkontrolliert, durch die Welt.

Unter zivilgesellschaftlichem Druck hatten sich Bayer, BASF und Syngenta öffentlich verpflichtet, ab 2014 Pestizidwirkstoffe mit der oben beschriebenen hohen akuten Toxizität (WHO 1B) aus ihrem Portfolio zu nehmen. Eine Überprüfung ergab, dass Bayer nicht nur Produkte mit zwei Wirkstoffen dieser Kategorie in verschiedenen Ländern des globalen Südens anbot, sondern auch verdeckte Verkäufe hochgiftiger Wirkstoffe tätigte. Bayers Verkauf des WHO-1B-Wirkstoffs Fenamiphos, der unter das Mandat freiwilliger Selbstverpflichtung fällt, an ein anderes Chemieunternehmen bleibt „unsichtbar“, weil das Pestizid dann unter dem Namen dieses Unternehmens vermarktet wird. Während ein solches Geschäftsgebaren einerseits kaum überrascht, ist die Unzulänglichkeit der freiwilligen Selbstverpflichtungen von Unternehmen nicht immer so eindeutig zu belegen wie in diesem Fall. Auf einer seiner Webseiten verkündet Bayer in Bezug auf Pestizide, die in der EU wegen ihrer Gesundheitsgefahren verboten sind, auf Feudalherrenart: „Wenn wir es für sinnvoll halten, nehmen wir Produkte freiwillig vom Markt …“ (Hervorhebung hinzugefügt).

Dabei hat das Bundeslandwirtschaftsministerium schon seit Jahren die Möglichkeit, per Verordnung aktiv zu werden. Laut Paragraf 25 des Pflanzenschutzgesetzes ist das Ministerium „ermächtigt, zur Abwehr erheblicher, auf andere Weise nicht zu behebender Gefahren für die Gesundheit […] die Ausfuhr bestimmter Pflanzenschutzmittel […] in Staaten außerhalb der Europäischen Union zu verbieten“. Die Untätigkeit des Ministeriums zeigt, dass es im Interesse der Chemiekonzerne und nicht der Landwirte handelte. Denn betriebswirtschaftlich betrachtet schadet das fehlende Verbot solcher Exporte potenziell den deutschen Landwirten. Sie sind gegebenenfalls dem Wettbewerbsdruck jener Produzenten im Ausland ausgesetzt, die die Gesundheit ihrer Arbeitskräfte schädigen und billige, in der EU verbotene Pestizide verwenden, die von Bayer und BASF exportiert wurden.

Marcos Orellana, UN-Sonderberichterstatter zu Auswirkungen von Umweltverschmutzung auf die Menschenrechte, betonte im Februar 2021 in einem Schreiben an die deutsche Regierung, dass Staaten auch im Alleingang tätig werden sollten, um die „verabscheuenswürdigen Doppelstandards“ abzuschaffen, die aus dem Export von hochgefährlichen Pestiziden resultieren. Regierungsvertreter argumentieren regelmäßig, dass ein solches Exportverbot nicht helfen würde, denn diese Pestizide, bei denen die Patentfrist schon abgelaufen ist, kämen dann aus China oder Indien. Deshalb ergäbe nur ein globales Abkommen Sinn. Doch die Motivation der Bundesregierung, ein internationales beziehungsweise globales Verbot hochgefährlicher Pestizide zu erreichen, dürfte erheblich beflügelt werden, wenn bereits ein gesetzliches nationales Verbot besteht, denn die Option, per Verordnung zu handeln, wird bekanntlich nicht genutzt. Deshalb fordern Aktivisten für Deutschland ein solches Gesetz, ein Gesetz, das in Frankreich, einem Land mit deutlich schwächerer Chemielobby, bereits existiert und im Januar 2022 in Kraft tritt. Selbst der im Oktober 2020 veröffentlichte Entwurf der EU-Kommission für eine europäische Chemikalienstrategie sieht ein Exportverbot für hochgiftige Chemikalien vor. Es bleibt abzuwarten, ob und wie stark der Entwurf im Zuge der Überarbeitung verwässert wird.

Zuerst erschienen in Lunapark21, Heft 56 (Dezember 2021). Leicht gekürzte Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.