Vor 1700 Jahren, am 11. Dezember 321, beurkundete Kaiser Konstantin die Existenz jüdischen Lebens in Colonia Claudia Ara Agrippinensium, der Hauptstadt der römischen Provinz Germania secunda. In seinem Edikt vom 11. Dezember 321 gestattete er die Berufung von Juden in Ämter und ermöglichte die Reparatur einer Rheinbrücke durch einen Kölner Juden namens Isaac. Damals gab es noch kein deutsches Land oder eine deutsche Sprache. Was es aber bereits gab, war das Zusammenleben von römischen zivilen und militärischen Kolonialverwaltern, ihren örtlichen Hilfstruppen, jüdischen, germanischen und keltischen Bewohnern der Kolonialstädte entlang des Rheins und ihres Hinterlandes und entlang der durch die Römer angelegten und ausgebauten Verkehrswege.
Es ist davon auszugehen, dass die Juden bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert – insbesondere nach der zweiten Tempelzerstörung im Jahre 70 – mit den Römern in die seinerzeit Germania inferior genannte Provinz zugewandert waren. Dort trafen sie auf Reste keltischer Eburonen und die von Marcus Agrippa, dem Schwiegersohn des Kaisers Augustus, im Jahre 18 v. Chr. auf dem linken Rheinufer angesiedelten Ubier. Auf Agrippas Befehl hatten die Ubier auf einem Hügel am Rheinufer eine Siedlung errichtet, deren Namen Oppidum Ubiorum die Stadt Köln bis zur Erhebung zur Veteranenkolonie Colonia Claudia Ara Agrippinensium im Jahre 50 n. Chr. zunächst trug. Die Ubier galten bereits Cäsar zu Zeiten des gallischen Krieges durch die Nähe zum Rhein und die sich daraus ergebenden Händlerkontakte als kultivierter als die anderen Germanen.
Als die römische Reichsgrenze im Jahre 352 zusammenbrach, gesellten sich ihnen noch die Franken bei, die 355 Köln eroberten und 388/89 den niederrheinischen Limes durchbrachen, um die römischen Kaiser in diesem und im darauffolgenden Jahrhundert als foederati (Verbündete) vor Plünderern zu schützen. Nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft gründeten sie das bedeutendste romanisch-germanische Nachfolgereich im Westen. Im von ihnen gestifteten fränkischen Kulturraum, der sich im Hochmittelalter bis weit nach Osten aufspannen sollte, galt den karolingischen Christen die Lehre von den drei heiligen Sprachen (tres linguae sacrae sive sapientales – Griechisch, Latein und Hebräisch), in denen Gott zu preisen sei, während die Juden Gott in der heiligen Sprache der Väter (Hebräisch und Aramäisch) lobten.
Im Gegensatz zur heiligen Sprache des Gotteslobes, der Gelehrten und des Klerus stand eine Laien- und Volkssprache, die man im 9. Jahrhundert als diutiscus zu bezeichnen begann. Als deren Schwestersprache entstand zur gleichen Zeit das Iwritaitsch, Judendeutsch oder Jiddisch, das im Südwesten des heutigen Deutschlands das Oberdeutsche mit dem überlieferten Sprachgut aus dem Romanischen, Aramäischen und Hebräischen verquickte. Nach seiner Verbreitung im Osten nahm es später auch Elemente des Slawischen auf.
Am Iwritaitsch, Judendeutsch oder jiddischen Idiom lässt sich die Kulturgeschichte des Raumes ablesen, der sich über Jahrhunderte bis weit ins östliche Europa erstreckte. Dessen zartes Band war die Sprache, die in ihrem Entstehungsraum bereits in der Neuzeit zugunsten der Standardsprache wieder zurückgedrängt wurde. Durch ihre Rückwirkungen auf die Umgebungssprachen, zahlreiche Mundarten und Gruppensprachen ist sie aber bis heute in eben jenem Gebiet sprachlich anwesend, in dem wir das tausensiebenhundertjährige Dasein jüdischen Lebens begehen.
Das Idiom ist gewachsener Ausdruck einer Symbiose, deren zarte Anfänge in dem Bittschreiben des Kölner Stadtrats an den römischen Kaiser sichtbar werden. Es bildete zunächst eine Brücke zwischen dem romanischen und dem germanischen, dann zwischen dem germanischen und dem slawischen Sprachraum.
Als er vor 1700 Jahren den Kaiser Konstantin bat, Juden in den Rat aufnehmen zu dürfen, um gemeinsam die Reparatur einer Rheinbrücke ausführen zu können, legte der Stadtrat von Köln den Grundstein zum Haus der jiddischen Sprache.
Die Brücke über den Rhein sollte erneuert werden.
Unser Autor, geboren 1975, ist Historiker und Slawist und lebt in Berlin. Er ist fellow researcher am Centre for Military, Intelligence and Security Studies (CMISS), Victoria, BC, Canada. Bei Klostermann erschien 2020 mit einem Nachwort von Uwe Halbach sein Buch „Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924.“
Schlagwörter: Geschichte, Judentum, Kaiser Konstantin, Schlagwörter: Philipp Ammon, Sprache