Kai-Uwe Merz hat sich ein ambitioniertes Projekt aufgeladen: eine Kulturgeschichte Berlins im 20. Jahrhundert. Bereits 2020 erschien bei Elsengold „Vulkan Berlin. Eine Kulturgeschichte der 1920er Jahre“, jetzt liegen die Bände über Berlin in der NS-Zeit und in der Nachkriegszeit vor. In wenigen Wochen wird Band vier erscheinen. Merz selbst weist auf die „immer wieder überraschenden Kontinuitäten“ hin, „die ausgehen von den 1920er Jahren und die erst recht vorausweisen in die Nachkriegsgeschichte“. Es ist weniger der Glamour der „Roaring Twenties“, der in unsere Zeit hinüberstrahlt. Es sind wohl eher ihre Krisenmomente und die mehr oder weniger gelungenen Versuche, ihrer Herr zu werden, die in Berlin nach wie vor virulent scheinen. Der Autor spricht lieber von „katzengoldenen“ denn von „goldenen“ Zwanzigern … Die Bücher sind allesamt mit seltener zu sehendem Bildmaterial ausgestattet. Schon das ist ein Beleg für eine ungewöhnliche, sehr individuelle Sicht des Autors auf „sein“ Berlin. Man muss die Stadt sehr lieben, um sich ihr subjektiv und dennoch unvoreingenommen nähern zu können. Der Zorn auf ihre Verderber stellt sich dann ganz von allein ein. Merz liebt Berlin.
Das Buch über die NS-Zeit hat er „Monster Berlin“ genannt. So muss die Stadt allen erschienen sein, über die unsere Groß- und Urgroßväter mit nie vorher dagewesenem Raub- und Vernichtungswillen hergefallen sind. In Berlin wurde dieser Krieg geplant, von hier nahm er seinen Anfang, hier fand er sein wahrlich infernalisches Ende. Die Stadt selbst führte er in den Untergang. Die Erzählung über diese Zeit geriet notwendigerweise zur Schilderung „kultureller Zerstörung, Unterdrückung, Verleugnung“. Aber Merz registriert auch einen bewundernswürdigen Selbstbehauptungswillen gegen das Regime, der der Stadt entgegen den Erwartungen Vieler den Versuch einer Wiederauferstehung nach ihrer totalen Niederlage ermöglichte.
Der Autor tastet sich vorsichtig an sein Thema heran. Natürlich besteht die Gefahr, oft Gesagtes wiederzukäuen, natürlich gleitet man leicht ab in oberflächliche Ideologeme, in das Sentiment. Merz setzt einen lauten, zutiefst dissonanten Auftakt-Akkord dagegen. Mittels des Tagebuches von Joseph Goebbels lässt er Hitler selbst zu Wort kommen, von dem eine in Berlin gern gepflegte Legende sagt, dass der die Stadt nicht mochte: „Der Führer vertritt die Meinung, daß […] die Berliner Bevölkerung am ehesten dazu geeignet ist, das Volk für die Reichshauptstadt zu stellen.“ Die Art der Berliner könne man „nur bewundern und lieben.“ Das sitzt … Allerdings spricht Hitler nicht von Berlin. Wenn er im zitierten Zusammenhang von der Reichshauptstadt schwadroniert, meint er das Speer-Brekersche „Germania“, die „Welthauptstadt“. Merz erzählt die Entwicklungsgeschichte dieses größenwahnsinnigen Projekts – und er weist auf noch heute im Stadtbild vorhandene Zeugnisse der NS-Bauwut hin. Es ist nicht nur der Tempelhofer „Schwerbelastungskörper“, wie manche meinen. „Germania“ ist für Sehende durchaus noch erkennbar.
Breiten Raum widmet Merz dem pervertierten Spannungsgeflecht von „Geist“ und Macht. Natürlich kommt man um den „Diktator Berlins“ (Merz) Joseph Goebbels nicht herum, natürlich ist Gustaf Gründgens ein eigenes Kapitel gewidmet. Von der bedingungslosen Unterwerfung unter „des Führers Willen“ zeugen Berichte über die Rolle der Medien wie Presse, Funk und Fernsehen. Überraschend ist sein Versuch, einen Realitätstest des nationalsozialistischen Frauenbildes durchzuführen. Da ist einmal „Breker im Bewegtbild“ (Leni Riefenstahl), dann „die First Lady des Dritten Reiches“ (Magda Goebbels) und eine junge Luftwaffenhelferin (Ingeborg Meyer). An Meyers Schicksal zeigt Merz, dass trotz der aufgedrückten Zweckbestimmung „Haus, Heim, Mann und Kinder“ das Regime die jungen Frauen durchaus „in Krieg und Kampf“ schickte. Ganz zu schweigen von der für Berlin und sein Umland erheblichen Rüstungsindustrie, die sich entscheidend auf den Einsatz dienstverpflichteter Frauen – nicht zu vergessen: Zwangsarbeiterinnen! – stützte. Ingeborg Meyer heiratete 1955 den Dichter Heiner Müller.
Spannend ist der Ansatz, Doppelbiografien sprechen zu lassen: Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan, Erich Kästner und Hans Fallada, George Grosz und Karl Hofer. Ein essayistisches Kabinettstück gelang Merz mit der Darstellung Arno Brekers, dem er die wohl mit Ausnahme des „Berlinale“-Bären fast vergessene Renée Sintenis entgegensetzte. Wer die Biografien kennt, weiß, dass die Geschichte keine „Stunde Null“ kennt. Am Beispiel der bildenden Kunst hatte auch das Deutsche Historische Museum kürzlich darauf aufmerksam gemacht. Kai-Uwe Merz weist immer wieder auf solche Kontinuitäten hin und kommt zu dem Schluss, auch das vereinte Berlin könne mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall der Tatsache nicht entgehen, „dass seine […] Zukunft bis heute auch aus der nationalsozialistischen Zeit geboren ist“.
Brecht erlebte die Stadt bei seiner Rückkehr aus dem Exil als „Schutthaufen bei Potsdam“ – er kannte das zerbombte Potsdam nicht. Kai-Uwe Merz greift ein Bild der „Anonyma“ Marta Hiller („Eine Frau in Berlin“) auf und nennt sein Buch über Nachkriegsberlin „Wüste Berlin“. Sein zeitlicher Rahmen endet 1953. Das ist konsequent. Mit der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni machte die Sowjetunion deutlich, dass die eigenstaatliche Entwicklung der DDR nicht mehr zur Disposition stehe. Der Mauerbau war ein zwar bildstarker, aber doch nur Schlusspunkt dieses Prozesses. Und am 29. September 1953 stirbt Ernst Reuter, der charismatische und neben Konrad Adenauer – der Berlin nun wirklich nicht mochte – wichtigste politische Gegenspieler Walter Ulbrichts. Merz weist zu Recht darauf hin, dass das Jahr 1953 eine größere Zäsur in der Berliner Geschichte bildet als bislang angenommen.
Auch in „Wüste Berlin“ praktiziert der Autor das Modell der „doppelten Biografien“. Für diese Art der schreibenden Erkundung hat er einen prominenten Fürsprecher. Am 7. Juli 1956 starb Gottfried Benn. Johannes R. Becher war ihm in einer innigen Freund-Feindschaft verbunden. Während er Benn im ersten Band seiner „Bemühungen“ als Kitschier verunglimpft, lässt er den Aufbau-Verlag noch nach Abgabe des Manuskripts im Juni 1956 den Abschnitt 292 in „Das poetische Prinzip“ aufnehmen: „Ich hatte die Wahl, Becher oder Benn zu werden“, beginnt dieser Text, behutsam die Alternativen der beiden, die expressionistische Dichtung geprägt habenden, Autoren aufzeigend. Er endet mit einem der berührendsten poetischen Nachrufe, die Becher je geschrieben hat. Kai-Uwe Merz zitiert ihn.
Er lässt vor allem dem Kulturpolitiker Becher eine für mich erstaunliche Gerechtigkeit widerfahren. Heute ist eher das Gegenteil üblich. Der in West-Berlin geradezu sakrosankte Benn kommt weniger gut weg. Ein ähnliches Verfahren wählt er bei der Betrachtung des Theaters – Boleslaw Barlog und Bertolt Brecht – und der Stadtarchitektur. An den Beispielen Hermann Henselmanns und Hans Scharouns komponiert Merz eine kunstvolle stadtentwicklungshistorische Fuge. Letzten Endes prägten beide „ihren“ Teil der Stadt mit bedeutenden Solitären. Das politische Berlin fremdelt heute mit beiden. Scharouns Ideen vom „organischen Bauen“ wurden am Kulturforum absichtsvoll abgewürgt. Henselmanns prägende Bauten wollen heutige Stadtplaner mit Betonwürfeln zustellen, in denen falsch verstandener Mies van der Rohe und Speerscher Gigantomanismus eine unheilvolle Allianz eingehen.
Kai-Uwe Merz beschreibt die in beiden Stadthälften – die östliche war eigentlich nur ein Drittel – engagierten Versuche, nach der totalen Niederlage in einem totalen Krieg wieder an das „vergangene Zukunftsbild“ der 1920er Jahre anzuknüpfen, kenntnisreich und voller Sympathie für ihre Protagonisten. Das musste angesichts des gerade in der besetzten Reichshauptstadt mit größter Erbitterung ausgetragenen Kalten Krieges scheitern. Der Merzsche Befund wird manchen nicht gefallen: „Berlin besitzt Mitte der 1950er-Jahre die Potenz nicht mehr, die deutsche Kulturwelt zu prägen, zu führen, auch nur zu spiegeln.“ Im „Epilog“ seines Buches konstatiert er diesen misslichen Zustand auch für das heutige Berlin. Ein Indiz dafür sei die permanente Verhinderung eines nationalen Kulturministeriums, wie Becher es für die DDR geschaffen hatte. Und er zitiert Gottfried Benns Bericht über die Begegnung mit einem Jugendlichen aus Nordwestdeutschland: „Für diese Jugend ist Berlin […] im märkischen Sand versunken wie Palmyra in der Wüste.“
Ich bin auf „Eiszeit Berlin“ gespannt.
Kai-Uwe Merz: Monster Berlin. Eine Kulturgeschichte der nationalsozialistischen Zeit, Elsengold Verlag, Berlin 2021, 256 Seiten, 26,00 Euro.
Kai-Uwe Merz: Wüste Berlin. Eine Kulturgeschichte der Nachkriegszeit, Elsengold Verlag, Berlin 2021, 240 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: Berlin, Kai-Uwe Merz, Nachkriegszeit, NS-Zeit, Wolfgang Brauer