Der Zauberer“ ist ein Roman von einem Fan für Fans. Schon, dass der irische Erfolgsautor Colm Tóibín den familiären Kosenamen Thomas Manns als Titel wählt, macht die Nähe und unverhohlene Zuneigung zu seinem Protagonisten zur Prämisse. Nun kann man allein die biographische Literatur über den Literaturnobelpreisträger von 1929 in Metern messen. Die Rolle des Repräsentanten der deutschen Kultur füllte er gerne aus. In die des entschiedenen, auch von den USA aus die Stimme erhebenden Hitlergegners hingegen musste er von seinen Kindern und den Zeitläuften erst gedrängt werden. Und doch entfaltet diese persönliche, ja intime Nähe, die Tóibín mit viel Empathie einnimmt, einen besonderen, nun ja, Zauber. Es gelingt ihm und seinem Übersetzer Giovanni Bandini nämlich, in dem im Carl Hanser Verlag jetzt auf Deutsch erschienenen Roman, gänzlich unaufdringlich und ausbalanciert einen Ton zu treffen, der auf die Thomas Mann-Diktion verweist. Der auch nur etwas geschulte Thomas-Mann-Liebhaber findet sich in dessen Aura wieder. Mit allem gebotenen Abstand versteht sich. Auch da, wo es sehr persönlich, ja intim wird.
Es hatte schon immer eines bewussten Ignorierens oder einer gewissen Borniertheit bedurft, um zu übersehen, dass schon im „Tonio Kröger“ und im „Tod in Venedig“, aber auch in der besonderen Beziehung zum Helden seiner Joseph-Romane und nicht zuletzt in den „Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull“ die Sublimierung einer ambivalenten Erotik mitschwang. Dem lebenslang mit ein und derselben Frau verheirateten sechsfachen Familienvater und Vorzeige-Bürger hätte das (nicht nur in seinen Tagebüchern) von den falschen Leuten „richtig“ Gelesene tatsächlich gefährlich werden können.
Wirklich neu ist das alles nicht, seit seine Tagebücher veröffentlich wurden. Es ist nur zu verständlich, dass der Roman-Autor besonders aus einer Episode des Umgangs mit diesen Tagebüchern einen kleinen dramatischen Höhepunkt komponiert. Diese Hefte mit unverhohlen homoerotischen Einlassungen waren nämlich immer noch im Safe des Mannschen Arbeitszimmers in der Poschinger Straße in München, als Thomas (Tóibín nennt ihn immer nur beim Vornamen) längst seinen Platz auf der Liste der Staatsfeinde Nazideutschlands eingenommen hatte. Es bedurfte einer ziemlichen Anstrengung, diese Bücher rauszuholen und ihren Verfasser so vor der Angreifbarkeit auf einer Ebene zu schützen, die sich erst viele Jahre nach seinem Tod erledigt hatte. Zumindest in dem bis zur Oder reichenden liberalen Teil Europas. Die Angstphantasien, die der Autor dem Zauberer hier zuschreibt, werden wohl so gewesen sein.
Überhaupt ist das der Grundton dieses Romans. Am 4. Oktober 1946 hat Thomas seinem Bruder Victor davon berichtet, dass ein britischer Ankläger in Nürnberg eine Äußerung Goethes über die Deutschen als authentisch zitiert hatte. Als die Presse heraus fand, dass das Zitat nicht von Goethe, sondern aus „Lotte in Weimar“ stammte, fragte die Botschaft in Washington bei Thomas Mann nach, wie es sich denn nun verhalte. „Ich habe geantwortet, ich verbürgte mich dafür, dass Goethe alles was er bei mir denkt und sagt, ganz gut wirklich hätte denken und sagen können.“ – so Thomas an seinen Bruder. Natürlich kommt dieses auf den Roman trefflich anwendbare Bonmot auch selbst darin vor.
Solche kleinen dramatischen Zuspitzungen gelingen Tóibín auch, wenn er von den Begegnungen berichtet, die Thomas mit seiner besitzergreifenden amerikanischen Gönnerin Agnes Meyer hatte. So sprach die couragierte Miteigentümerin und Mitherausgeberin der Washington Post, mit einem direkten Draht zum Weißen Haus und dem Präsidenten-Ehepaar Roosevelt, meist vor allem von ihren Anliegen, während Thomas vergeblich nach einer Gelegenheit suchte, um mit einem ganzen Bündel von Bitten für den eigenen Bruder und viele andere Bedrängte einen Fuß in die Tür zu bekommen. Wenn Agnes dann aber am Ende mit einer Mappe voller Vorschläge, Lösungen, nebst umfänglichem Scheck, die Situation auflöst, ist das eine Pointe von packendem Charme.
Oder wie Thomas Mann bei seinem 1949 gegen die ausdrückliche Aufforderung der US-Behörden unternommenen Abstecher zur Goethe-Ehrung nach Weimar in die sowjetische Zone reist. Als er dann beim Empfang neben dem Sowjet-General Tjulpanow sitzt (der Autor macht hier den bekannten Kulturoffizier Sergei Tulpanow, gleichsam mit Thomas Mannscher Großzügigkeit, vom Oberst zum General) und die beiden spontan und im Wechsel aus dem Gedächtnis ein Goethe-Gedicht rezitieren, dann ist das anrührend. Erst recht als Kontrast zu diversen Verhören durch das intellektuell deutlich schlichtere Personal des FBI in Kalifornien.
Da, wo es nicht auf den dramatischen Effekt hinausläuft, da kommt man ins Staunen über den respektablen Wohlstand, den Thomas Mann sich – auch unter den Bedingungen der Emigration – erschrieben hat. Und über die Gelassenheit, mit der er und seine Frau Katja sich zwar als Zentrum einer großen Familie verstanden, aber doch auch bei jedem der Kinder loszulassen vermochten. Überhaupt ist der Roman auch eine Hommage an Katja, seinen Lebensmenschen.
„Der Zauberer“ ist also nicht nur eine Art schelmischer Epilog, an dem ein Mitglied der Leserfamilie das pure Vergnügen der Wiedererkennbarkeit und des Erinnerns haben dürfte. Er taugt auch als Prolog und Anreger, um zu dem einen oder anderen Werk zu greifen.
Nicht im wissenschaftlichen, aber doch im oben zitierten Sinne, folgt der Autor der Intention, die Rüdiger Safranski mit Goethe schon durchexerziert hat. Also wie da ein Künstler das eigene Leben als selbstgeschaffenes Gesamtkunstwerk zu verstehen und zu gestalten versuchte. Die allumfassenden, tieflotenden Lebens- und Werkanalysen, deren Fehlen in manchen Rezensionen beklagt wurde, die gibt es schon.
Colm Tóibín: Der Zauberer. Roman, aus dem Englischen von Giovanni Bandini, Carl Hanser Verlag, München 2021, 556 Seiten, 28,00 Euro.
Schlagwörter: Colm Tóibín, Joachim Lange, Thomas Mann