25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Sozialismus der Denker

von Erhard Weinholz

Wer als Autor seine Arbeiten rezensiert sieht, ist gehalten, auf Gegenkritik zu verzichten. Was ich an dieser Stelle zu Gerd Irrlitz’ unlängst veröffentlichter Untersuchung „Die Idee des Sozialismus“ äußere, will ich daher weniger als Rezension verstanden wissen, sondern eher als Teil jenes Gesprächs über brennende Fragen dieser Bewegung, das ihr Tun stets begleitet, aber selten nur beeinflusst hat.

Irrlitz’ Thema sind die drei großen „W“ des neueren Sozialismus: Was war es für eine Ordnung, die hier 1989/90 an ihr Ende kam? Warum war sie so, wie sie war, was zugleich heißt: Woran ist sie gescheitert? Und schließlich: Wie weiter? In seine Antworten werden Erfahrungen eingeflossen sein, die er mit wenigen nur noch teilt: 1935 geboren, hat er auch die stalinistische Frühphase der DDR halbwegs bewusst erlebt; vermutlich ist, was der heute 86jährige Ostberliner Philosophiehistoriker zu alledem schreibt, als Bilanz aufzufassen. Noch etwas aus seinem Lebensweg, das für seine Arbeit von Belang gewesen sein könnte: Er war Bloch-Schüler. Wie sehr er inhaltlich auf ihn zurückgreift, kann ich nicht einschätzen; sprachlich macht es sich mitunter in einer leseerschwerenden Blumigkeit und Geschraubtheit bemerkbar, die – wie im folgenden Satz – auch mal ins Unverständliche übergeht: „Die hohe Zeit zwischen vorausgewiesenem ideellem Ziel und Gegenwart ist die sich forterzeugende Krise der Existenz.“

Was da vor mehr als zwanzig Jahren nach nur kurzer Gegenwehr untergegangen ist, darüber hat man viel gestritten. Es ist tatsächlich schwierig, die Eigenarten dieses Systems in all ihren Wandlungen und Widersprüchen zusammenhängend zu erfassen und dafür dann den passenden Begriff zu finden. Und da sich an dieser Aufgabe fast immer politische Interessen festmachen, ist eine Einigung sowieso unmöglich. Hatte diese Gesellschaft überhaupt etwas Sozialistisches an sich? Anhand welcher Kriterien ließe es sich ermitteln? Vom Autor einer Schrift mit dem genannten Titel hatte ich erwartet, dass er solchen Fragen nachgeht, doch er spricht lediglich von einer „eigene(n) Produktionsweise, nicht kapitalistisch, nicht sozialistisch“, eine These immerhin, die bei eingehenderer Darstellung fruchtbar werden könnte. Zuletzt aber bezeichnet er sie als „frühkommunistisch“, und das ist ja nun wieder etwas ganz Anderes.

Großen Raum nimmt bei ihm die Suche nach den Ursachen des Charakters dieser Gesellschaft und ihres opferreichen Geschichtsverlaufs ein. Dass er dabei von der sowjetrussischen Entwicklung ausgeht, liegt auf der Hand. Es wäre sicherlich nützlich gewesen zu fragen, weshalb die Idee des Sozialismus / Kommunismus auch in Ländern mit anderer politischer Kultur, Frankreich etwa, vorwiegend mit dem leninistischen Parteimodell verknüpft war, weshalb also das Ziel eines freiheitlichen und demokratischen, eines experimentierenden Sozialismus, von dem er mehrmals spricht, immer nur von kleinen Minderheiten erstrebt wurde. Aber man sollte von einer Broschüre so geringen Umfangs nicht Antwort auf sämtliche Grundfragen verlangen.

Mit Blick auf die Entwicklung in Russland widmet sich Irrlitz vor allem Lenins Revolutionskonzept. Dabei ist mir jetzt noch etwas klar geworden: Dass sich die Bolschewiki auf den schlechter gestellten Teil der Arbeiterschaft zu stützen suchten, wie er schreibt, fand später ein Gegenstück in ihrer Strategie der gesellschaftlichen Umwälzung auf dem Lande, wo sie die Dorfarmut, das ländliche Lumpenproletariat sozusagen, gegen die wirtschaftlich fähigeren Kräfte in Bewegung setzte. Das aber blendet Irrlitz aus, obwohl er doch von den Revolutionsvorstellungen vieles ableitet: Lenins blanquistische Orientierung – Revolution als geplanter Aufstand – habe, und das leuchtet ein, den Aufbau der zentral geführten Partei neuen Typus verlangt. Dass ihr Zentralismus die vorgesehene innerparteiliche Demokratie erdrückt hat, kann nicht verwundern; weshalb sich die Räte nicht als selbständige Machtorgane behaupten konnten, ist nicht so selbstverständlich, wird aber von ihm nicht erklärt. Der stalinistische Terror wiederum stelle „den Vollzug dieses Revolutions- und Parteikonzepts unter den Erfordernissen dar, nach der Machtergreifung eine Gesellschaft produktiver Bürger im diktatorischen Staat zu schaffen“. Auf die intellektuellen Bedingungen gesehen, habe er sich aus dem Konflikt zwischen dem Denkstil der Partei und der Rationalität des Handels der Betriebsleiter, Offiziere und so weiter entfaltet. „Der Terror …, er wird die sich immer erneuernde Revolution“ – so auf Seite 24. Auf Seite 37 wertet er ihn hingegen als nur scheinrevolutionär.

Von diesen – langfristig wirkenden – Faktoren ausgehend bleibt jedoch unklar, weshalb dieser Terror sehr bald nach Chruschtschows Amtsantritt endete. Eher erschließt es sich vielleicht, sieht man ihn im Zusammenhang mit den Hauptaufgaben der Stalinära: Industrialisierung, Rüstung, Wiederaufbau. Den daraus entspringenden Ressourcenbedarf deckte man zu einem beträchtlichen Teil durch staatlichen Zwang, auf dem Lande wie in der Industrie. Die Arbeitsbedingungen dort waren 1929, zu Beginn der Industrialisierungsperiode, noch immer schlecht, man konnte den Arbeitsplatz auch schon nicht mehr frei wählen, nun begann zudem der Reallohn zu sinken, der ohnehin kaum 20 Prozent über dem Vorkriegsniveau gelegen hatte. Er sank über Jahre hinweg, denn die Kolchosen erlitten rasch einen derartigen Substanzverlust, dass längere Zeit nur noch innerindustriell akkumuliert werden konnte.

Arbeitsverweigerungen häuften sich, der Staat antwortete mit Strafandrohungen, die sich verschärften bis hin zum Erlass vom Sommer 1940, der dann bis 1952 galt. Ich will keinen allzu engen, geradezu eineindeutigen Zusammenhang zwischen dem Akkumulationsregime und dem Terror behaupten, der sicherlich mehr als einem Zweck gedient und sich wohl auch oft verselbständigt hat; auf alle Fälle war dies ein Feld realer, in solcher Schärfe jedoch zeitlich begrenzter Konflikte, die man repressiv zu lösen suchte. Gerade hier stellt sich die Frage, was das Volk denn 1917 hätte gewinnen können und was es tatsächlich gewonnen hat; eine Antwort auf diese Grundfrage einer jeden Revolution habe ich bei Irrlitz nicht gefunden. Er bringt stattdessen eine Fiktion ins Spiel: die „außerordentliche moralische Energie eines sich dem hohen Anspruch verpflichtenden Volkes, die neue sozialstaatliche Ordnung auf der Grundlage aktualer wissenschaftlicher und ökonomischer Standards zu schaffen“.

Befasst man sich mit der Zukunft der sozialistischen Bewegung, so liegt es nahe, auch an die Bemühungen zu erinnern, jene Ordnung, die zuletzt als real existierender Sozialismus einherkam, zu reformieren oder gar zu revolutionieren. So finden wir hier manches über die Gedanken Trotzkis und Kautskys, doch wenig Konkretes über Vorstellungen aus den 50er und 60er Jahren und nichts über die Ideen der einzigen neuen Gruppierung, die im März 1990 mit einem sozialistischen Wahlprogramm angetreten ist, und das war nicht das Neue Forum, das er kurz erwähnt, sondern die Initiative für eine Vereinigte Linke.

Ziel einer sich erneuernden Bewegung, so liest man zuletzt bei ihm, müsse es sein, den zentralen Widerspruch der gegenwärtigen Industriegesellschaft aufzulösen, dass das intellektuelle Potential der Gesellschaft als Ganzes Subjekt der Arbeit sei, jedoch privates Eigentum über die Großindustrie verfüge. Zwecks Effektivierung der Produktion sei es neu aufzuteilen zwischen den Alteigentümern, den Beschäftigten und gewählten Vertretern des Staatsapparats, die sich in politisch kontrollierten Lenkungsgremien zusammenfinden. Ähnliche Vorstellungen hat einst meines Wissens Walter Rathenau entwickelt. Es gäbe dazu vielerlei zu sagen; auf alle Fälle ist kaum anzunehmen, dass mit solchen – vielleicht expertokratisch zu nennenden – Ideen ein gesellschaftlicher Wandel zu bewirken sein könnte.

Gerd Irrlitz: Die Idee des Sozialismus (Philosophische Gespräche, Heft 66), Helle Panke, Berlin 2021, 44 Seiten, 3,00 Euro.