24. Jahrgang | Nummer 26 | 20. Dezember 2021

Österreich in Aufruhr

von Hannes Hofbauer, Wien

Schon den dritten Samstag in Folge zogen Mitte Dezember 2021 über hunderttausend Demonstranten durch die Wiener Innenstadt. Seit die türkis-grüne Regierung allen in Österreich lebenden Menschen per 1. Februar 2022 eine Impfpflicht verordnet hat, füllt Protest die Straßen. Und dies nicht nur in der Hauptstadt, sondern in Dutzenden kleineren Städten und Gemeinden. Das Volk ist aufgebracht wie nie zuvor. Niemand hier in Wien kann sich an dermaßen kraftvolle Manifestationen erinnern, da hilft es auch nichts, wenn große Medienhäuser oder das staatliche Fernsehen darüber hinwegsehen oder diffamierend berichten. Die an den Protesten beteiligten Menschen wissen um ihre Stärke, nebenbei bemerkt weiß das auch die Polizei, die sich bislang zurückhält, zurückhalten muss angesichts der schieren Menge.

Einen zentralen Treffpunkt gibt es nicht. Mehrere Organisationen, Bürgerbewegungen oder Berufsgruppen melden rund um die Wiener Innenstadt Kundgebungen an, zu denen sich üblicherweise rund um die Mittagszeit Protestierende formieren. Die rechte FPÖ trifft sich auf dem Heldenplatz; die neue Formation „Menschen-Freiheit-Grundrechte“ (MFG), die bei den Landtagswahlen in Oberösterreich kürzlich auf Anhieb 50.000 Stimmen und 6,2 Prozent erhielt, veranstaltet ihre Anfangskundgebung am Schwarzenbergplatz direkt vor dem Befreiungsdenkmal für die Rote Armee; die linke Allianz „Demokratie und Grundrechte“ versammelt ihre Sympathisanten passend am „Platz der Menschenrechte“ und so weiter.

Die allerwenigsten Demonstranten sind politisch organisiert, viele von ihnen gestehen auf Nachfrage, dass sie sich in ihrem bisherigen Leben nie denken konnten, für ein Anliegen oder gegen eine Regierungsmaßnahme auf die Straße zu gehen. Nun füllen sie die Wiener Innenstadt: ganze Familien, stramme Rechte, viele ehemalige Grüne, die dem Autor aus vergangenen Zeiten persönlich bekannt sind, Alt- und Neuhippies, gläubige Katholiken, Krankenhauspersonal mit auffälligen weißen Kopfbedeckungen, vereinzelte Gewerkschafter, ein kleiner Trupp Polizisten ohne Uniform, Freiberufler und kleine Selbstständige. Letztere empört nicht nur die Impfpflicht, sondern auch das ständige Hin und Her des regierungsamtlichen Zu- und Aufsperrens. Mit Datum vom 12. Dezember gelten in den neun Bundesländern die unterschiedlichsten Regeln. In Tirol darf man als Geimpfter oder Genesener Schifahren und ins Hotel gehen, in Wien bleibt alles zu, inklusive der Gastronomie. Ob Geimpfte indoor Masken tragen müssen, ist den neuen Verordnungen nicht zu entnehmen. Das Chaos hat System.

Am frühen Nachmittag streben dann alle von ihren Versammlungsplätzen in Richtung Wiener Ringstraße. Dicht an dicht, meist ohne Masken, bewegt sich der Demonstrationszug um die 5,2 Kilometer lange Prachtstraße, wobei in kurzer Zeit der gesamte Ring mit Menschen überflutet ist; die ersten schließen zu den letzten auf. Auffällig wenig Transparente werden getragen, dafür hunderte, wenn nicht tausende selbst bemalte Schilder. „Regierung abdanken“, „Hände weg von unseren Kindern“, „Gegen Impfpflicht“ steht da zu lesen … oder „Hass dem grünen Pass“. Anders als auf linken Kundgebungen wehen jede Menge nationaler Fahnen, allen voran das Rot-Weiß-Rot. Dazu kommen die Flaggen österreichischer Bundesländer und überraschend viele internationale. Serbische, slowakische und bosnische sind am häufigsten, was wohl mit den vielen früher Gastarbeiter genannten Menschen aus Osteuropa zu tun hat. Zwei Frauen schwingen ein Stofftuch, dem die rumänische Staatlichkeit anzusehen ist. Sie sind Altenpflegerinnen und fühlen sich betrogen. Von der Freiheit, die sie im Westen erwartet hatten, ist – sagen sie – nichts übriggeblieben. Sich impfen zu lassen komme für sie nicht in Frage. Eher würden sie Österreich den Rücken kehren. Zu kleiner medialer Berühmtheit hat es ein männliches Dreigespann gebracht, das gemeinsam über den Ring marschiert und eine zusammengenähte serbisch-bosnisch-kroatische Fahne mit sich führt: „Impfgegner – Brüderlichkeit und Einheit“, verkündet das Trio jedem, der es wissen will.

Gewiss handelt es sich bei Covid-19 um eine schwere Pandemie, die es einzudämmen gilt. Doch seit der Protest gegen die Verhältnismäßigkeit restriktiver Maßnahmen aus dem virtuellen Raum auf die Straße getreten und zum größten Massenprotest der Zweiten Republik geworden ist, reagiert die Regierungsbank aus Volkspartei (ÖVP) und Grünen mit einer Realitätsferne, die einem den Atem rauben kann. Beide Koalitionsparteien überbieten sich in Diffamierungen und Hetze, typische Merkmale einer Herrschaft, die jeden Kontakt zur Bevölkerung verloren hat. Die grüne Führung hängt sich besonders weit hinaus, wenn ihr Vizekanzler Werner Kogler im Parlament hasserfüllt über die Proteste sagt, dass dort nichts weiter als „

„Staatsverweigerer, Neonazis und Co. samstags durch die Stadt spazieren“. Von solcher Herrschaftssprache zur politischen Kriminalisierung ist es nur mehr ein kurzer Weg, den allerdings die Breite der Bewegung zurzeit mühelos abschneiden kann.

Die Diffamierung des Gegners ist ein altbekanntes politisches Werkzeug jener, die meinen, ihre Macht nur dadurch verteidigen zu können. Das war schon bei den AKW-Protesten Ende der 1970er Jahre so, als der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky die Atomkraftgegner damit hänselte, dass sie glaubten, der Strom komme ohnedies aus der Steckdose und dass sie im Übrigen allesamt Maoisten seien – damals ein Schimpfwort, das heute nicht mehr zieht. Als gegen den „NATO-Doppelbeschluss“ mit seiner Aufrüstungsspirale Anfang der 1980er Jahre demonstriert wurde, hieß es, alle, die sich dagegen zur Wehr setzten, gehörten zur fünften Kolonne Moskaus, seien also Kommunisten; und wer gegen den ersten NATO-Krieg out of area gegen Jugoslawien im März 1999 auf die Straße ging, dem wurde vorgeworfen, für den Wiedergänger Hitlers am Balkan, Slobodan Milosevic, einzutreten. Nun eben „Neonazi“ und „Staatsverweigerer“, wenn man gegen den Impfzwang mit einem Stoff eintritt, der keine Garantie bietet, gegen das entsprechende Virus immun zu sein.

Die österreichische Bundesregierung übertüncht ihre Unfähigkeit im Umgang mit der Corona-Krise durch repressives Gehabe. Dass auch das schlecht funktioniert, kann man an den ständigen Regierungswechseln ablesen. Das Land verbraucht gerade seinen zweiten Gesundheitsminister und seinen dritten Bundeskanzler während der Corona-Zeit. Dazu sind vor einer Woche vier neue Regierungsmitglieder angelobt und zwei an andere Stellen versetzt worden. Stabilität sieht anders aus. Der neue ÖVP-Kanzler Karl Nehammer machte sich als vormaliger Innenminister bereits während des ersten Lockdowns im März 2020 einen Namen, als er jene, die sich verbotenerweise auf einer Parkbank niederließen oder zu wenig Abstand hielten, „Lebensgefährder“ nannte. Den harten Mann unterstreicht der nunmehrige Kanzler durch sein kantiges Auftreten, wobei ihm der grüne Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein nicht nachsteht. Das ständige Ausspielen von Geimpften gegen Ungeimpfte, von Willigen gegen Skeptiker, treibt einen Rechtsruck in der Gesellschaft voran. Ungeimpfte sind unter der jetzigen Koalitionsregierung längst zu Menschen zweiter Klasse geworden, an denen auch jene ihr Mütchen kühlen können, die sich sonst nichts zu sagen trauen. Zum regierungsamtlichen Aufruf, Maßnahmenkritiker zu denunzieren, soll also Anfang Februar die Kriminalisierung der Impfunwilligen kommen. Schon meldete sich der unsägliche Gesundheitsminister mit dem Sager zu Wort, dass es Beugehaft für Impfverweigerer nicht geben werde. Wer sich erinnert, was Typen wie er bereits alles versprochen haben, dass es sicher nicht geben werde, keinen weiteren Lockdown, keine Impfpflicht … dem graut vor solcher Aussage. Solange Österreich in Aufruhr ist, werden sich seine Alpträume allerdings nicht erfüllen.