Die Welt bloß noch schwer verschleiert – das ist Makula! Die Augen ausgetrocknet, nach 97 Lebensjahren. Für einen, der bislang abertausende Sätze von mindestens 900 Kilometern Länge hintippte, der Regalmeter füllte mit seinen Büchern und Zeitungsartikeln, für einen wie Günther Rühle – Journalist, Theaterkritiker, Theaterintendant, Autor, Herausgeber – ist allmähliche Erblindung wie grausames Berufsverbot. Das strafverschärfend hinzu kommt zu den sonstigen schweren Gebrechen seines Alters.
Dieser Mann empfand es geradezu zwanghaft als Berufung und lebte es mit missionarischer Leidenschaft sowie strenger Disziplin, Wissen, Erfahrung, Gedachtes und Erlebtes wortreich weiterzugeben. Und ausgerechnet ihm, dem großen Kenner und Könner, dem scharfen, dabei leidenschaftlichen Beobachter der Theaterwelt, führt das Schicksal nun noch ein neues, ihm unbekanntes Drama auf. Mit Rühle allein, hochbetagt und fast erblindet, in der Hauptrolle.
„Tu endlich, was du dir bislang verweigert hast! Denk für dich nach“, sagt dieser notorische Arbeitsmensch. Und haut mit lebenslang bewährtem Zweifingersuchsystem 232 Buchseiten „auf gut Glück ins Blinde“. Sein „Dechiffriersyndikat“ mit Kollegen vom Verlag übernahm die Korrektur. So entstand zwischen September 2020 und Mitte April 2021 Günther Rühles „merkwürdiges Tagebuch“. Sinniger Titel „Ein alter Mann wird älter“.
Es ist ein ausladendes Selbstgespräch. Angefangen mit der Kindheit als Enkel eines Bäckers über die Schulzeit im NS-Staat hin zu den journalistischen Anfängen bei einer Vertriebenenzeitung, später bei der Frankfurter Rundschau. 1960 kam er als Kritiker ins Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1974 wurde er dort Feuilleton-Chef, doch die FAZ tat sich trotz (oder gerade wegen) seiner Urteilskraft und (vor allem) womöglich zu deutlich linksliberaler Gesinnung schwer mit ihm. Rühle kühl: „Man kann in einer auf Innovationen angewiesenen Gesellschaft kein restriktives Feuilleton machen.“
So folgte denn ein Seitenwechsel: 1984 wurde Rühle „als Retter in der Not“ berufen zum Intendanten des müde dahinspielenden Schauspiels Frankfurt. Dort machte er gegen große Widerstände die Bühne frei für den aus der DDR geflüchteten, mit befremdlichen, ja schockierenden Ästhetiken antretenden Regisseur Einar Schleef und goutierte gegen noch weitaus größere Widerstände die Fassbinder-Inszenierung „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Nach fünf Jahren lehnte Rühle die Vertragsverlängerung ab wie auch die Berufung als Chef der Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin (einschließlich lebenslanger Pensionsansprüche). Er wollte zurück zur Zeitung, zum schnellen Betrieb und wurde 1990 Feuilletonchef im Berliner Tagesspiegel – als inzwischen allgemein respektierte General-Instanz des Theaters; eine im digital radikal demokratisierten Zeithalter heutzutage übrigens undenkbar gewordene Position.
2007 erschien Rühles deutsche Theatergeschichte von der Reichsgründung bis 1945; anno 2014 der zweite Band über die Zeit 1945 bis 1966, als im Nachkriegsdeutschland ein so oder so politisches Theater entstand. Beide Werke zusammen: ein epochales Monument. Eine wohl einzigartige historische Recherche mit eindrucksvollen Rekonstruktionen signifikanter Ereignisse und Porträts der Protagonisten – aus kritischer Gegenwärtigkeit geistreich kommentiert. Ein Werk getragen von enzyklopädischem Wissen. Eine Art Bibel des so weit verzweigten deutschsprachigen Bühnenbetriebs, vom Kaiserreich angefangen über die Weimarer Republik und die NS-Zeit bis in die Jahre der deutschen Teilung.
Der ausstehende dritte Band (1967 bis 1995), endend mit dem Tod von Heiner Müller, der nach Rühles Meinung das Ende der dramatischen Produktion markiert, existiert in einer unabgeschlossenen Fassung und soll demnächst als Fragment erscheinen, herausgegeben von dem jene Zeit mitprägenden Dramaturgen Hermann Beil gemeinsam mit Stephan Dörschel, dem Chef des Archivs Darstellende Kunst der Berliner Akademie der Künste.
In diesem wahrlich spannenden Fragment konstatiert Rühle – dies sei hier vorweggenommen –, dass mit der postmodernen Öffnung der Gesellschaft das Ende der Lessingschen Bestimmung von Aufklärung, Emanzipation, Humanismus gekommen sei; das Ende dessen, was Schiller mit „Theater als moralische Anstalt“ meinte. Peter Stein habe in seiner späten Arbeit in Berlin noch einmal verdeutlicht, „was bürgerliches Theater war und als Substanz erinnerbar bleibt“. Steins kolossalem „Faust“ 2000 stehe Frank Castorfs „virtuose Vermatschung“ anno 2017 an der Volksbühne gegenüber. Castorf zelebriere schalkhaft die Begräbnisriten des bürgerlichen Theaters, indem er dessen Kanon fröhlich zerhacke. Mit dem Tod von Heiner Müller und Thomas Bernhard sei die Entstehung dramatischer Texte zu Ende, erloschen sei sie mit „Schlusschor“ von Botho Strauß, 2014 Schaubühne Berlin.
Fast sein ganzes Arbeitsleben lang beschäftigte sich Rühle als Herausgeber mit einem großen Altvorderen seiner-unserer Zunft: mit Alfred Kerr. Noch im späteren Pensionsalter kümmerte er sich um dessen unveröffentlichte Sachen, darunter die Feuilletons „Briefe aus Berlin“. Eine Wiederentdeckung, sonderlich lehrreich in postdramatischer Zeit. Ein gefeiertes Ruhmesblatt für Kerr wie für Rühle.
Nun also die Übernahme des, wie Gothe sagte, neuen Rollenfachs Älterwerden. Für Rühle wie die „Öffnung eines inneren Tresors“. Wir lesen von zutiefst demütigenden Schlachten gegen die körperliche Degeneration im immerhin luxuriösen Eigenheim im Taunus-Bad Soden. Ungeniert drastisch werden Einzelheiten beschrieben. Die lahmen, die schmerzenden Knochen, die Mühe, morgens in die Hosen zu kommen, die Schwierigkeiten, in der Mikrowelle vorgekochtes Essen aufzuwärmen. Banaler Alltag als nicht selten misslungener Hochleistungssport. Das Ringen mit Depressionen, Ängsten. Wer das womöglich noch vor sich hat, ahnt, was ihm da blüht. Dazu die traurigen Wanderungen im Geiste „durch den Totenwald einstiger Zeitgenossen“; durchs Eheleben mit der längst dahingegangenen Ehefrau Margrit.
„Alter Mann wird älter“ erzählt erschütternd vom eigenen allmählichen Absterben. Zugleich ist es persönlicher Rechenschaftsbericht. Ein Endspielbuch, was ganz allgemein unser Theaterleben betrifft. Und natürlich, es ist einfach ein großer Text.
Am 10. Dezember verstarb Günther Rühle, drei Monate nach der Buchveröffentlichung.
Günther Rühle: Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Ahrens. Alexander Verlag, Berlin 2021, 232 Seiten, 22,90 Euro.
Schlagwörter: Feuilleton, Günther Rühle, Reinhard Wengierek, Theaterkritik