Wenige Wochen nach der Bundestagswahl veröffentlichte das Magazin JACOBIN online einen Artikel von Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, unter dem Titel „Schicksalswahl: Alles muss anders werden, ändern soll sich wenig!“. Meinungsstark und klug in der Argumentation sucht Dörre die Ursachen für den Ausgang der Wahl nicht wie üblich auf der Ebene des dominanten Politiktalks, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Ursachen für den Wahlausgang. Der Bundesvorstand der Partei DIE LINKE interessierte sich dafür und lud den Professor zu seiner turnusmäßigen Sitzung im November ein.
Eine Kernaussage Dörres lautet: „Aus der Perspektive eines nachhaltigen Sozialismus gilt es vor allem drei tiefenstrukturelle Veränderungen in den Blick zu nehmen: ein Versagen der Öffentlichkeit, das Zurückbleiben aller politischer Parteien hinter den Anforderungen einer Nachhaltigkeitsrevolution und das Scheitern der Partei Die Linke als sozialistische Sammlungsbewegung.“ Es folgen Begründungen für diese Aussage, die sowohl praktische Erfahrungen wie auch Forschungsergebnisse theoretischer Arbeit der Jenaer Gruppe um Klaus Dörre berücksichtigen. In Zeiten, da es um DIE LINKE schlecht bestellt ist, wird immer wieder mal der Ruf laut, dass jetzt für Theorie keine Zeit wäre, weil dringende aktuelle Fragen zu klären wären. Zu hoffen ist, dass dieser gedankliche Unsinn in diesem Fall nicht gegen Dörre oder Studien der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Anschlag gebracht wird. Denn, wenn zwischen ausgefeilter und auf praktische Veränderung gerichteter Theorie und einer durch „Sachzwänge“ und Talkshowthemen bestimmten politischen Praxis nichts Verbindendes zu erkennen ist, dann muss das nicht zuerst an der Theorie liegen. Dörre und seine Kolleginnen und Kollegen können sich über mangelnde Medienpräsenz nicht beklagen. Dort fallen sie jedoch nicht mit üblicher Politikerschelte auf, um in der Verbalschlacht beim Kritisieren linken Versagens beziehungsweise der Politik schlechthin einen vorderen Platz einzunehmen, sondern können auf Analysen und Lösungsvorschläge verweisen, die einen wichtigen Beitrag leisten könnten, um Tagesgeschäft und strategische Zielstellungen in Einklang zu bringen.
Eine wichtige Publikation in diesem Kontext, also den aus linker Perspektive strategischen Themen wie Nachhaltigkeitsrevolution, Erneuerung der sozialistischen Utopie oder Klimagerechtigkeit, ist die im Campus Verlag erschienene Studie „Abschied von Kohle und Auto? Sozial-ökologische Transformationskonflikte um Energie und Mobilität“. Der Vorzug dieser Publikation ist, dass die Autorinnen und Autoren sich nicht auf ein plattes Kämpfen Kohlegegner gegen Kohleverteidiger einlassen, sondern sehr genau die jeweils subjektive Sicht der angeblich unversöhnlichen Seiten zu erfassen versuchen und diese Sichten in den Kontext der tatsächlichen Anforderungen an einen nachhaltigen Transformationsprozess stellen. Deshalb dürfte dieses Buch für Gewerkschaftskreise ebenso interessant und lehrreich sein wie für Umweltaktivisten und strategisch denkende Köpfe der institutionalisierten Linken.
In der Einleitung schreiben Klaus Dörre, Madeleine Holzschuh, Jakob Köster und Johanna Sittel: „Denn bei allen Unsicherheiten und Ungewissheiten scheint eines klar. Hinter der Zukunft von Kohle und Auto verbirgt sich ein Großkonflikt um Zukunftsgesellschaften, deren Produktionsweisen und Lebensstile Nachhaltigkeitskriterien genügen.“ Am Beispiel der Lausitz wird es dann konkret. Im Buch heißt es im entsprechenden Kapitel: „In der Lausitz erleben wir einen, in diesem Fall regional begrenzten, Transformationskonflikt, wie wir ihn modifiziert in naher Zukunft wohl auch in anderen Karbon-Branchen erwarten können. Tatsächlich hat sich der alte industrielle Klassenkonflikt im Braunkohlerevier der Lausitz erkennbar in einen sozial-ökologischen Transformationskonflikt verwandelt. (…) Das heißt auch: Die ausschließliche Bearbeitung der ökologischen Konfliktachse ignoriert in der Tendenz soziale Nachhaltigkeitsziele. Umgekehrt bedeutet eine ausschließliche Fokussierung auf die soziale Konfliktachse, dass ökologische Zielsetzungen ins Hintertreffen geraten.“
Die Schlussfolgerung für politische Akteure in der Lausitz und darüber hinaus kann folglich nur sein, diesen Konflikt theoretisch-analytisch und praktisch-politisch anzugehen und beide Felder zusammenzubringen. Denn: „Es handelt sich von Beginn an um einen politischen Konflikt.“
Jacob Köster demonstrierte diesen Sachverhalt beeindruckend mit seinem eloquenten Auftreten auf der Konferenz „Glück Auf Strukturwandel“ der Luxemburgstiftung 2019 in Großräschen. Für die Zuhörerinnen und Zuhörer wurde sinnlich erlebbar, dass es vielleicht doch noch ganz im Sinne von Ernst Bloch so etwas gibt, wie ein konstruktiv-streitbares Miteinander von Kältestrom (nüchtern-rationale Analyse des Zustandes und Bestimmung des Zieles) und Wärmestrom (solidarisch-engagiertes gemeinsames Handeln). Die Demonstration eines offensichtlich neuen Stils dieser Forschungsgruppe aus Jena, der Engagement nicht mit Ereifern verwechselt und empirisches Material nicht selektiv benutzt, um lediglich die eigene Position zu verteidigen, trug dazu bei, dass Vertreterinnen und Vertreter aus Umweltinitiativen, Kommunalverwaltungen, Gewerkschaften, sorbischen Vereinen und Institutionen, Abgeordnete und Bergleute respektvoll miteinander diskutierten.
Sie bestätigten im Übrigen, was auch im Buch als Feststellung zu lesen ist, dass nämlich unverständlicherweise „das gesamte Instrumentarium regionaler Strukturpolitik, wie es etwa im Ruhrgebiet und in anderen altindustriellen Regionen eingesetzt wurde, bei wichtigen Akteuren in der Lausitz nahezu unbekannt ist. Das muss sich rasch ändern, wenn der anstehende Strukturbruch sozial und ökologisch nachhaltig bewältigt werden soll.“ Ein Kapitel, in dem es vorrangig um die Autoindustrie geht, heißt „Vor der Transformation“. Das könnte heißen, rechtzeitig für die von der zukünftigen Transformation betroffenen Regionen der Autoindustrie die Erfahrungen der Lausitz zu analysieren und daraus zu lernen. Denn, so Klaus Dörre zusammenfassend: „Die Konturen einer Alternative zum Wachstumskapitalismus sind alles andere als klar gezeichnet. (…) Eine vorübergehende Erscheinung (…) sind die Auseinandersetzungen um die Braunkohle in der Lausitz mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Vielmehr offenbaren sich in ihren Dynamiken, die einen Vorgeschmack auf das bieten, was sozial-ökologische Transformationskonflikte den Gesellschaften im 21. Jahrhundert in weit größerem Ausmaß abverlangen – ein zähes Ringen zwischen den Kräften des Beharrens und neuen Nachhaltigkeitsallianzen, die vor radikaler Gesellschaftsveränderung nicht zurückscheuen werden.“
Nachhaltiger Sozialismus ist also das Ziel, ein nachhaltiger oder sozial-ökologischer Sozialismus? Ja, durchaus mit einem Schuss Utopie, geht es genau darum. Noch einmal Klaus Dörre an die Adresse der Linken: „Der Niederlage der Linken zum Trotz geht es jetzt um einen neuen Sozialismus.“ Ein Lieblingsthema scheint das bei den institutionalisierten Linken nicht zu sein. Ein besonders eklatantes Beispiel liefert seit Jahren die brandenburgische LINKE, wenn es um eine Position zum Kohleausstieg geht. Ohne Wiederbelebung der Linken als Bewegungslinke auf der Grundlage strategisch-theoretischer Konzeptionen wird jedoch das Fragezeichen durch kein Ausrufezeichen zu ersetzen sein. Eine ernsthafte Beschäftigung mit den Studien der Jenaer Forschungsgruppe für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie könnte den Prozess beschleunigen.
Klaus Dörre u. a. (Hg.): Abschied von Kohle und Auto? Sozial-ökologische Transformationskonflikte um Energie und Mobilität, Campus Verlag, Frankfurt am Main / New York 2020, 333 Seiten, 29,95 Euro.
Schlagwörter: Die Linke, Gerd-Rüdiger Hoffmann, Klaus Dörre, Kohleausstieg, Transformation