Im November 2021 wurde nun endlich eine Studie mit dem Titel „Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Viel zu spät, aber immerhin. Untersucht werden darin die Aktivitäten der Behörde in der Zeit von 1950 bis 1974. Die Autoren der Studie von der Universität Erlangen-Nürnberg kommen zu dem Schluss, dass die Bundesanwaltschaft in ihren Gründungsjahren zu einem sehr hohen Anteil mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Juristen aus dem NS-Justizapparat besetzt war. Das und der im Kalten Krieg auch von den Westalliierten in der alten Bundesrepublik gepflegte Antikommunismus führten in der Behörde dazu, dass gegen Linke im Allgemeinen und gegen Kommunisten im Besonderen eifrig ermittelt und mit harter Hand durchgegriffen wurde. Zugleich hielt sich der Wille, etwa Beweise gegen Rechtsradikale oder gar Rechtsterroristen zu sammeln, in bescheidenen Grenzen.
Das ist alles mehr als bekannt und hätte keine Studie benötigt. Aber zur Geschichte der Bundesanwaltschaft (BAW) gehört noch viel mehr. Sie hatte nämlich nicht nur die volle Rückendeckung der Politik, sondern wohl auch die Weisung, genau so und nicht anders vorzugehen.
Als die Broschüre „Wir klagen an. 800 Nazi-Blutrichter – Stützen des Adenauer-Regimes“ 1959 in der DDR erschien, wurden die Enthüllungen als kommunistische Hetze und Unwahrheit abgetan. So erging es auch dem „Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik“, das der Weltpresse 1965 durch das SED-Politbüromitglied Albert Norden in der DDR präsentiert worden war. Darin waren die SS-Dienstränge und NS-Parteiämter von 1800 Wirtschaftsführern, Politikern und führenden Beamten der BRD aufgelistet worden. Die Regierenden in der Bundesrepublik bezeichneten das „Braunbuch“ als „kommunistisches Propagandamachwerk“.
Die Ergebnisse der Studie – wohl keine wirkliche Aufarbeitung, sondern vielmehr ein Feigenblatt ohne Konsequenzen nach dem Motto: Ja, es war halt so. „Vor diesem Hintergrund ist das jahrzehntelang praktizierte Sich-nicht-zuständig-Fühlen bei blutigen rechten Umtrieben nicht überraschend“, schreibt Jana Frielinghaus in der Zeitung neues deutschland. „Diese Grundhaltung bei gleichzeitig fast manischem Verfolgungseifer gegenüber Linken prägte das Handeln der Behörde lange Zeit, was sich auch nach der Selbstenttarnung des NSU noch zeigte, dessen Mordserie man in Karlsruhe nicht als Terror einstufte, schon gar nicht als staatsgefährdend. Ganz anders geht die Behörde im Fall mehrerer mutmaßlich von einer Gruppe um die linke Studentin Lina E. verübter tätlicher Angriffe auf Neonazis vor. Das sieht sie schon als ihre Angelegenheit an. Dies wirft mindestens die Frage auf, ob die Behörde nicht noch immer mit zweierlei Maß misst.“
Auch dem Bundesjustizministerium der alten BRD muss bescheinigt werden, auf dem rechten Auge blind gewesen zu sein, mehr noch, die Verbrechen der Nazis zu verharmlosen und eine Bestrafung zu verhindern. Ein Dr. Eduard Dreher, während der Nazizeit Erster Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck, spielte dabei eine Hauptrolle. Er wurde schon in der genannten Schrift „Wir klagen an. 800 Nazi-Blutrichter – Stützen des Adenauer-Regimes“ als „Ministerialrat im Bundesjustizministerium“ erwähnt.
Dreher beantragte zum Beispiel die Todesstrafe für den Gärtner Josef Knoflach aus Patsch, der Lebensmittel gestohlen hatte. Auch für die österreichische Hausiererin Karoline Hauser, die illegal von einem Altstoffhändler Kleiderkartenpunkte gekauft hatte, beantragte Staatsanwalt Dreher als Volksschädling und gefährliche Gewohnheitsverbrecherin die Todesstrafe. Die Verurteilung zu fünfzehn Jahren Haft reichte Dreher nicht, er ließ sie in ein Arbeitserziehungslager (= Konzentrationslager) verbringen. Mit der Aufarbeitung der Vergangenheit des Bundesjustizministeriums wurden 2016 weitere 17 Fälle bekannt, in denen Dreher als Vertreter der Staatsanwaltschaft Todesstrafen forderte.
Und dieser Dreher fädelte nun als Ministerialdirigent und Leiter der Strafrechtsabteilung im Bundesjustizministerium das Ungeheure ein, eine kalte Amnestie für Nazi- und Kriegsverbrecher durch ein Gesetz, das am 1. Oktober 1968 in Kraft trat.
Die Presse war es, die diesen Skandal aufdeckte, aber man wollte das Gesetz nicht wieder zurücknehmen, wobei man sich auf ein Grundprinzip des Rechtsstaates berief. Wenn ein Verbrechen verjährt ist, kann das nie wieder rückgängig gemacht werden. Es muss angemerkt werden, man wollte es aus politischen Gründen nicht außer Kraft setzen.
Dass ein solcher rechtlicher Spagat durchaus funktioniert, zeigt die gesamte „Aufarbeitung der SED-Diktatur“. Denn ein noch höherwertiges Grundprinzip des Rechtsstaates bestimmt, dass eine Tat nur dann bestraft werden kann, „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“. Das generelle Rückwirkungsverbot wurde mit pseudo-juristischen Konstruktionen ausgehebelt, weil es das politische Ziel war, die Spitzen der DDR-Führung als gemeine Verbrecher hinzustellen und vor das Strafgericht zu bringen.
Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang bleiben, dass auch das Bundeskriminalamt (BKA) auf eine tiefbraune Vergangenheit zurückblickt. Dieter Schenk, von 1980 bis 1989 Kriminaldirektor im BKA, belegt in seinem Sachbuch „Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA“ (Köln 2001) über den Aufbau der Wiesbadener Behörde mit unzähligen Beispielen, dass das Bundeskriminalamt seine Wurzeln in der Sicherheitspolizei des NS-Regimes hatte. Bis in die 1960er Jahre hinein arbeitete die Mehrzahl der leitenden Beamten in braunen Westen. Das Führungspersonal bestand aus früheren Schreibtischtätern des Reichssicherheitshauptamtes, die „Homosexuelle“, „Zigeuner“ und „Asoziale“ in Konzentrationslager einwiesen, und aus „Einsatzleiter“, die Erschießungen von jüdischen Frauen und Kinder, von Geiseln und angeblichen Partisanen verantwortet und zum Teil selbst bei Exekutionen Hand angelegt hatten.
In seinem Vorwort schreibt Dr. Michel Friedman, damals der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland: „Aufklärung beginnt vor der eigenen Tür, gerade bei der Polizei gilt dieser Grundsatz […] Der Rechtsextremismus ist eine gesellschaftliche Erscheinung in allen Schichten, Altersstufen und Bildungsniveaus, er schleicht sich in alle Berufsgruppen ein.“
Und so müssen wir uns auch heute noch heute angesichts der gesellschaftlichen Gefahren fragen: Wie konnte es geschehen, dass der „Architekt des BKA“ Paul Dickopf, nebenbei auch CIA-Agent, die Behörde zum organisatorischen Abklatsch des Reichskriminalpolizeihauptamtes machte und zu einer Art Versorgungseinrichtung für alte Nazi-Kriminalisten? War das eine wesentliche Ursache dafür, dass die Bekämpfung des Rechtsextremismus im BKA bis in die heutige Zeit sehr halbherzig betrieben wurde? Über Jahrzehnte, so Schenk, stand dem dafür zuständigen Referat von 30 Bediensteten eine Abteilung von 300 Sachbearbeitern zur Bekämpfung des linken Terrorismus gegenüber!
Dieter Schenk berichtet auch, dass sich im BKA, das über zwei Jahrzehnte von gewendeten Nationalsozialisten aufgebaut und zwangsläufig auch geformt wurde, Gesinnung tradierte: Das Herrschaftswissen wird für sich behalten, die Untergebenen werden arrogant behandelt, Posten werden sich gegenseitig zugeschoben, totale Abschirmung nach außen. Der autoritäre Führungsstil dieser Gründerkaste vererbte sich auf ganz fatale Weise.
Und wie wird damit in der heutigen Bundesrepublik Deutschland umgegangen? Wie gehabt, denn Vergangenheit aufzuarbeiten macht immer dann großen Spaß, wenn es nicht die eigene ist. So werden sich Politik und Medien auch 31 Jahre nach der deutschen Einheit mit Sicherheit nur mit der „Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit“ beschäftigen.
„Da kann man sehr gut von der reaktionären Vergangenheit der BRD ablenken“, schrieb Harald Grünbeck aus Magdeburg nach der Veröffentlichung der Studie über die braunen Wurzeln der Bundesanwaltschaft in neues deutschland. Und in einem anderen Leserbrief von Karl-Heinz Gläser können wir lesen, dass sich bis heute der Justizapparat zu einem wesentlichen Teil aus sich selbst rekrutiert. So könne eine Weiterverfolgung dieser „Familientradition“ zu durchaus interessanten Erkenntnissen bis in unsere heutige Zeit führen. Es gibt noch viel zu tun.
Sehr viel sogar.
Friedrich Kießling und Christoph Safferling: Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF, dtv Verlagsgesellschaft, München 2021, 608 Seiten, 34,00 Euro.
Schlagwörter: Bundesanwaltschaft, Bundeskriminalamt, Christoph Safferling, Eduard Dreher, Frank-Rainer Schurich, Friedrich Kießlig, kalter Krieg, Rechtsextremismus