Vom 1. Januar 1895 bis zum 25. November 1900 veröffentlichte Alfred Kerr in der Wochenendausgabe der Breslauer Zeitung regelmäßig mit lockerer Hand geschriebene Betrachtungen über das Leben in der Reichshauptstadt. Als Günther Rühle 1997 erstmals 134 dieser „Berliner Briefe“ herausgab, überschlug sich selbst Marcel Reich-Ranicki mit Lob: „Die Geschichte des deutschen Feuilletons muss neu geschrieben werden.“ Es handele sich um das wichtigste Buch des Jahres 1997.
Natürlich muss die Geschichte des deutschen Feuilletons nicht neu geschrieben werden, aber Ergänzungen und Korrekturen sind inzwischen schon nötig. Im Sommer 2021 legte Deborah Vietor-Engländer bei Wallstein eine vierbändige Edition vor, die Rühles Ausgabe nicht nur ergänzt, sondern weit in den Schatten stellt. Auf über 2900 Seiten dokumentiert sie 733 Kerrsche „Plauderbriefe“ aus der Zeit vom 6. Juni 1897 bis zum 24. September 1922. Veröffentlicht wurden sie in der liberalen Königsberger Allgemeinen Zeitung. Das ist auch der Grund, weshalb diese „Briefe aus der Reichshauptstadt“ so lange unbekannt blieben. Kerr selbst hatte sie nicht aufbewahren können. Königsberg ging im April 1945 unter. Als Deborah Vietor-Engländer von der Existenz der „Plauderbriefe“ – Kerr hatte sie selbst so genannt – erfuhr, lud sie sich eine wahre Sisyphos-Arbeit auf: Die russischen Archive, da liegen die Königsberger Archivalia, machten ihrem Anliegen gegenüber „dicht“. Und wer jemals versuchte tiefer in den west- und osteuropäischen Zeitungsarchiven zu graben, weiß, wie disparat die diesbezügliche Archivlage ist. Und nun noch eine Königsberger Zeitung! Fündig wurde die Herausgeberin schließlich in polnischen Archiven. Vor dieser Leistung kann man sich nur tief verneigen!
Auch die „Plauderbriefe“ sind Berichte aus und über Berlin – die Anspielung auf Heines „Briefe aus Berlin“ war von Kerr durchaus beabsichtigt. Die Chefredaktion der Königsberger Allgemeinen war – ähnlich wie schon die der Breslauer Zeitung – klug genug, ihrem noch recht jungen Mitarbeiter bei der Wahl seiner Themen und der Art seiner Darstellung freien Lauf zu lassen. Lediglich die Zeilenzahl zwang ihm eine – recht großzügig gehaltene – Beschränkung auf. Ergebnis ist ein Textkonvolut, das de facto eine nicht-akademische, also lesbare, Kulturgeschichte Berlins in der Hoch- und Endzeit des Kaiserreiches und der ersten Jahre der Weimarer Republik darstellt: „Es kommen Dinge vor, die keine Kulturgeschichte verzeichnet, aber die zu wissen die Leute in hundert Jahren interessieren könnte“, schreibt der Autor, seine Stoffwahl quasi entschuldigend, im März 1917.
Kerr notiert Beobachtungen und Recherche-Ergebnisse quer durch alle Gesellschaftsschichten der „Panke-Athener“ – das Wort „Spree-Athen“ fließt ihm nicht aus der Feder. Allerdings macht er aus seinen großbürgerlichen Neigungen keinen Hehl, er sieht die Stadt durchaus vom Grunewald her. Da wohnt er. Aber wenn die neureichen Emporkömmlinge, die „hartherzigsten und verknöchertesten Millionärinnen des Westens“ zu Weihnachten ihren „Wohltätigkeitsraptus“ bekommen, da wird sein Spott fast tödlich. „Bessere Zeitgenossen besitzen oder pachten ein Jagdrevier.“ – Nicht nur das liest sich alles sehr heutig. Was hat sich seit 1900 eigentlich geändert? Aber Kerr beobachtet genau. Hinter all der grauslichen wilhelminischen Aufgeblasenheit sieht er die preußische Metropole zur Weltstadt heranwachsen. Allenthalben registriert er durchaus mit Wohlgefallen „Anzeichen für die allmälige Amerikanisierung unserer Verhältnisse“.
Das betrifft den großstädtischen Verkehr, die Stadt des Gewerbefleißes („Im Arbeiten ist der Berliner der Provinz überlegen.“), die Stadt der großen Kaufhäuser. „Man muß das neue Haus gesehen haben, um einen Begriff von der grandiosen Entwicklung Berlins zu bekommen“, begrüßt er das neue Kaufhaus Wertheim in der Leipziger Straße. Dagegen ringt ihm der Neubau der Königlichen Bibliothek Unter den Linden – die heutige Berliner Staatsbibliothek – nur ein Kopfschütteln ab: „Gerade in Berlin, der modernen, gleichmäßigen Stadt, hat man eine wahre Sehnsucht nach so alterthümelnden Gebäuden.“ Was würde Kerr angesichts der peinlichen Schlossplatz-„Rekonstruktion“ des 21. Jahrhunderts wohl sagen?
Natürlich schreibt Alfred Kerr auch über das Theater, aber in diesen großen Feuilletons nicht hauptsächlich. Selbstverständlich beobachtet er die neuen Kunstrichtungen und belästert die „tapetenhafte Regelmäßigkeit“ des Jugendstils – ironischerweise übernimmt er ab 1912 den PAN, die tonangebende-Zeitschrift dieser Kunstrichtung. Aber da druckt er nur noch Literatur ab … Kerr schreibt über Mode und über Bälle, über Vereinswesen und Frauenemanzipation – die er ohne seine übliche Ironie positiv bewertet. Er beschreibt die Tragödien des Mieterdaseins und die sommerlichen Fluchten der Berliner aus ihrer Stadt, ihre Sehnsucht nach der Provinz – das dürfte seine Königsberger Leser erfreut haben – und ihre feste Überzeugung, da überhaupt nicht leben zu können.
Über die „große Politik“ schreibt er in den ersten Jahren weniger. Allerdings outet er sich als Bewunderer Otto von Bismarcks. Das ist in diesen Jahren für junge Akademiker durchaus eine oppositionelle Haltung. Sehr dezidiert äußert er sich nach dem Krieg über Politisches. So setzt er sich mit zunehmender Verzweiflung mit den für ihn überhaupt nicht hinnehmbaren Bestimmungen des Versailler Vertrages auseinander. Er ahnt, dass da der Keim eines neuen Kriegs gelegt wird. Und er weiß um die Bedrohungen der jungen Republik von rechts. Sein Freund Walter Rathenau wird im Juni 1922 wenige hundert Meter von der Kerrschen Wohnung ermordet. Einige Tage später überlebt Maximilian Harden ebenfalls in Grunewald nur knapp einen Mordanschlag. Bei beiden ist der antisemitische Hintergrund nicht zu übersehen. „Der Sommer unseres Mißvergnügens hat begonnen“, ringt Kerr, Shakespeare parodierend, um Fassung.
Acht Jahre zuvor hatte er noch leidenschaftlich die deutschen Kriegserklärungen begrüßt – die Stimmung auf den Berliner Straßen schildert er in seinen Briefen auf eine kongeniale Weise – und schrieb hurrapatriotische Gedichte, die ihm einige Jahre später eine juristische Auseinandersetzung mit Karl Kraus bescheren sollten. Davon rückt er aber bald wieder ab. Die deutsch-nationalen Untertöne finden sich allerdings noch bis 1918 in seinen Berichten. Wer aber wissen möchte, wie sich das Ringen der Berlinerinnen und Berliner um das blanke Überleben in diesen Hungerjahren gestaltete, der schlage Band drei dieser Ausgabe auf …
Ich bemerkte bereits, dass sich Vieles liest, als sei es heute geschrieben. Dazu gehört auch die tragische Fehleinschätzung der Spanischen Grippe durch Kerr. Am 13. Oktober 1918 schreibt er: „Die Grippe rast. […] Schließlich ist man noch dankbar, daß es nur eine verhältnismäßig unwesentliche Krankheit ist, die uns das Jahr 1918 beschieden hat.“ Zehn Tage später stirbt Alfred Kerrs Ehefrau Inge an der „unwesentlichen Krankheit“, das Paar war erst seit dem 15. Juli verheiratet. Kerr überlebt mit knapper Müh und Not. Zwischen dem 20. Oktober 1918 und dem 16. Februar 1919 schweigt der Berliner Plauderer.
Nein, die Geschichte des deutschen Feuilletons muss nicht neu geschrieben werden. Aber die Berliner Kultur- und Alltagsgeschichte jener Jahrzehnte, die sollte auch anhand der Kerrschen Befunde überprüft werden. Alfred Kerr war mehr als „nur“ der geliebte und gefürchtete Theaterkritiker. Er war ein scharfsichtiger Chronist seiner Zeit, in der nicht zuletzt die Grundsuppe auch unserer heutigen Übel angerührt wurde. Diese vier Bände sind eine Fundgrube für alle an der jüngeren deutschen Geschichte Interessierten!
Sie sind ein „Muss“ für alle Freunde Kerrschen Schreibens. Und für alle, die meinen, sich irgendwie schreibend in den heutigen Journalen tummeln zu müssen. Die sollten sich zwingend damit auseinandersetzen.
Das ist die Latte, über die muss man rüber.
Ich bin Deborah Vietor-Engländer und dem Wallstein Verlag sehr dankbar für diese Ausgabe.
Alfred Kerr: Berlin wird Berlin. Briefe aus der Reichshauptstadt. Vier Bände, herausgegeben von Deborah Vietor-Engländer, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, zusammen 2984 Seiten, 148,00 Euro.
Schlagwörter: Alfred Kerr, Berlin, Deborah Vietor-Engländer, Feuilleton, Plauderbriefe, Wolfgang Brauer