24. Jahrgang | Nummer 23 | 8. November 2021

Theaterberlin 

von Reinhard Wengierek

Diesmal Leidenschaft, Einfühlung, Verwandlung: Ruth Walz – ein Halbjahrhundert Theaterfotografie im Museum für Fotografie; und Großer Dreier: „Amok“, „Sarah“, „Blechtrommel“ – Literaturadaptionen als szenische Monologe im Berliner Ensemble.

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Er hat das Zeug zur Hauptrolle: der Theatervorhang. Als großer Verhüller und Enthüller, aufrauschend, abstürzend, schwebend. Ein Faszinosum, findet Ruth Walz, Theaterfotografin, die ein knappes Halbjahrhundert lang Spitzenleistungen der vornehmlich westdeutschen Theater- und später auch Opernkunst beobachtete und in ihren Bildern „heimliche Wahlverwandtschaft“ erkennt – mit dem Theatervorhang. Deshalb ihr Credo: „In Bildern zeigen und erzählen, was dem Regisseur wichtig ist. Und dabei etwas vom Geheimnis aufdecken, ohne es ganz zu verraten.“

Folglich tritt Ruth Walz „nicht als eigenständige Künstlerin, sondern als Chronistin“ an. Einer Bühnenproduktion den eigenen Blick, die eigene Handschrift überzustülpen, verbiete sich. Vielmehr gehe es darum, im Bild deren „verletzliches, eigenartiges Wesen“ zu erfassen. – Das ist es, was die Ausstellung „Ruth Walz. Theaterfotografie 1967 – 2021“ im Berliner Museum für Fotografie so besonders macht.

Dabei will diese Schau keine Retrospektive eines immerhin glanzvollen Gesamtwerks, kein Best of Walz sein. Sondern, so sagt sie, „eine Collage von Reflexen, ein Streifzug durch mein Archiv, quer durch Zeiten und Szenen“ – von Berlin bis Salzburg, Athen bis Zürich sowie zu den damals, in den 1970ern, noch neuartigen Spielorten wie Stadien, Gasometer, Fabriken, Messehallen. Mit Regisseuren wie Peter Stein, Klaus Michael Grüber, Luc Bondy, Peter Sellars oder Robert Wilson im Mittelpunkt. Oder dem Iffland-Ring-Preisträger Bruno Ganz, dem Lebenspartner von Ruth Walz, der sie fesselte seit seiner Rolle „als träumender Prinz von Homburg, mit weißem, weit aufgerissnem Hemd, auf ganz eigene Art oszillierend zwischen viriler Härte und Melancholie“. Oszillierend! Das war in Berlin anno 1972. Seither sind die beiden ein Paar, vier Jahrzehnte lang bis zu Brunos Tod im Frühjahr 2019.

Die Begeisterung fürs Theater begann bei Ruth Walz, Jahrgang 1941, in der Bremer Jugendzeit mit Peter Zadeks Shakespeare-Inszenierung „Maß für Maß“ (1967, mit Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz), die Epoche machte mit völlig neuartigen Bildfindungen für provokante Vergegenwärtigungen. Nach dem Studium beim Berliner Lette-Verein fing Walz zunächst als Standfotografin beim Film an (Ulrike Meinhofs „Bambule“); freilich ohne vom Theater zu lassen. Schließlich holte sie Peter Stein fest unter Vertrag als Hausfotografin an seine Schaubühne, damals noch am Halleschen Ufer. Erst hier hatte sie die Möglichkeit, ihr Verständnis vom Beruf ernsthaft auszuleben. Nämlich als teilnehmende Beobachterin des gesamten Verlaufs einer Produktion. Und nicht gastweise als fremde Instanz, die vielerorts engagiert wird für die Klicks der flüchtigen Momente.

Nur als „Prozessbeteiligte“ seien die eine Inszenierung ausmachenden Augenblicke zu finden, „in denen die Zeit sich aufhalten lässt in einem Raum mit einem Satz, mit einer Geste, durch einen Blick“. Nur so gelänge es, mit der Kamera Natur und Seele der Figuren sowie deren sichtbare wie unsichtbare Beziehungen „vorsichtig anzudeuten“. Statt sie bloß „effektvoll grell“ auszustellen.

Solche Bilder von „Wesens“-Szenen mit beseelten Figuren machen die Schau im Kaisersaal des ehemaligen Landwehrcasinos zum aufregenden Erlebnis – nicht nur für ergriffene Zeitzeugen von damals, sondern gerade auch für neugierige, mit neuen Formen und Spielweisen konfrontierte Theaterfreunde von heute. Und nebenbei: Der Saal versammelt in seltener Fülle ein Who is Who des deutschsprachigen Spitzenbetriebs im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts.

Eine eigene Abteilung dokumentiert exemplarisch die besondere, prozesshafte Arbeitsweise der Fotografin: Peter Steins „Orestie“-Inszenierung 1980. Es fing damit an, dass das gesamte Ensemble samt Fotografin eine monumentale Steinmauer hochziehen (der Spielhintergrund) und ein Graffiti sprühen musste; „Durch Leiden lernen“. Lernen durchs Körperliche; nicht bloß durchs Geistige des Aischylos. Daneben Fotos vom kollektiven Textlesen (die Fotografin samt Script mittendrin) – „Steins Maßnahmen-Programm, den antiken Mythos zu erfühlen“. Dazu eine Fotostrecke mit Edith Clever als Klytaimnestra: Der furchtbare Doppelmord an Agamemnon und Kassandra. Danach die Clever als Erschöpfte in der Garderobe. Was für eine Erzählung…

Es sind solche Reports aus der Zeit vor Einzug der Postdramatik, die sonderlich erstaunen. Als man sich in ungeniert erbarmungslos (selbst)kritischer Regie- und Ensemblearbeit mit akribischer Textexegese und aufwändigen Proben konzentrierte auf ein dramatisches Hochleistungs- und Hochspannungs-Spiel. Das schloss vermeintlich cooles Dahin-Dilettieren rigoros aus. Professionelle Mindeststandards als Old School abzutun oder gar als spießig – damals unvorstellbar.

Umso bedenkenswerter die Fülle auratischer Bilder. Die kostbaren Erinnerungen der Ruth Walz an ihr Theater der Leidenschaft, Einfühlung, Verwandlung. Eine Art Vermächtnis der Achtzigjährigen.

Bis zum 13. Februar 2022.

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Schon seit längerem präsentiert das Berliner Ensemble seine Protagonisten in großartig dramatischen Solo-Programmen. Beispielsweise Cordelia Wege mit „Amok“: Eine prominente steinreiche Frau ruft um Hilfe bei einem namenlosen, verarmten Arzt. Sie fordert eine illegale Abtreibung, er fordert Liebe. Sie verweigert sich; er bleibt stur. Sie verblutet bei einer Kurpfuscherin, er stürzt sich in den Tod.

„Amok“ heißt die Geschichte von Stefan Zweig, 1928 veröffentlicht in der Textsammlung „Novellen einer Leidenschaft“. Sie beschreiben im Geist von Sigmund Freud, wie ein alle Sinne beherrschendes Gefühl, eine hemmungslose Begierde völlige Besinnungslosigkeit auslöst, ein Leben auf den Kopf stellt und schließlich Leben zerstört.

Die Rede ist von dem menschlichen Phänomen einer totalen Leidenschaft, die explodiert, das bislang geordnete Selbst auflöst und dann tötet. Die grandiose Schauspielerin, artistische Sprach- und Sprechkünstlerin Cordelia Wege hat sich Stefan Zweigs Text, der sonderlich durch seine analytische Genauigkeit so sehr erregt, zur Vorlage genommen für einen monologischen Extrakt, der dieses starke Stück Prosa zu einer Art Gedicht komprimiert (Mitarbeit: Johannes Nölting). Eine artifizielle Abstraktion sozusagen. Ein poetisches Kunststück – im Geist des Autors und seiner unheimlichen Erfindung: Einem Menschenhelfer, einem Arzt mit auflodernden Gefühlen, der blind vor Raserei Gegenliebe erpresst, Leben vernichtet und sich selbst dazu. „Ein Opfer und doch auch Diener unbekannter mystischer Mächte.“

Cordelia Wege hat sich, live mit unheilvoll zarten bis erschreckt gellenden Klängen begleitet von dem Musiker Samuel Wiese, eine exzentrische Selbstinszenierung erdacht: An Armen und Beinen scheinbar wie an ein Kreuz genagelt hängt sie in einem Gestell aus Stahl. Eine gute Stunde lang. Das fasziniert, ist durchaus passend und irritiert doch ob der akrobatischen Hochleistung. Wird sie durchhalten? Sie hält! Was unvergesslich bleibt, ist das ikonenhafte Bild vom seelisch bis zum Zerreißen gespannten und gemarterten Menschen, der so verzweifelt wie ergeben an dünnen Seilen schwebt und wankt.

Zum Zweiten Marc Oliver Schulze mit „Sarah“ von Scott McClanhan. In diesem von Regisseur Oliver Reese, Dramaturg Johannes Nölting und Marc Oliver Schulze für die Bühne adaptierten autobiografisch gefärbten Roman erzählt der US-Amerikaner saftig, drastisch, komisch und herzzerreißend vom unaufhaltsamen Abstieg eines vom Leben völlig überforderten und dennoch eigenartig liebenswürdigen Lehrers aus der Gutbürgerlichkeit ins Elend von Alkoholismus, Gewalt, Familienverlust, Armut, Einsamkeit. Eine mitreißende Schicksals-Erzählung, sarkastisch witzig mit verzweifelt wilden Resten von rührendem Aufbegehren gegen diese selbstverschuldete Daseins-Verwüstung. Eine so sensible wie brutale Show des virtuos inszenierten und gespielten Psychorealismus. Ein großer, ein erschütternder Abend voll Verbitterung und Raserei, innigen und komischen, ja aberwitzigen Momenten. Muss man erlebt haben.

Zum Dritten das Solo von Nico Holonics, dem Mackie Messer der „Dreigroschenoper“: Regisseur Oliver Reeses Bühnenfassung der „Blechtrommel“ von Günter Grass. Oskar Mazerath, der besessene Trommler gegen der Zeiten und Welten Wahn, rast geradezu atemberaubend durch den Roman – und hält aufgeregt inne an seinen Dreh- und Angelpunkten. Wieder eine schauspielerische (und inszenatorische!) Meisterleistung. Überhaupt: Intendant Reese hat ein bewundernswertes Händchen für die Verwandlung von Literatur in subtiles Kammerspiel. Noch ein Leuchtturm im Berliner Bühnenbetrieb.