Mitunter – und nicht erst, aber insbesondere mit der Corona-Berichterstattung in Zeitungen und Medienportalen – hat man den Eindruck, die freie Presse sei ein Verlautbarungskanal der Bundesregierung. Ist dieses Urteil berechtigt?
„Die Berichterstattung in Deutschland empfinde ich als sehr einseitig. Es fühlt sich für mich so an, als ob sich alle zusammengetan hätten.“ So das Statement eines Passanten in einem Filmbericht der ARD-Tagesschau (3. Mai 2020) über die Pressefreiheit in Zeiten von Corona. Harsche Medienkritik, keineswegs nur von rechts, wurde auch auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen geäußert, auf sozialen Netzwerkplattformen und in „Alternativmedien“ wie multipolar-magazin.de oder nachdenkseiten.de, wo Jens Berger am 23. April schrieb: „Die Corona-Berichterstattung der großen Zeitungen und Medienportale wirkte in den letzten Wochen wie ein offizieller Verlautbarungskanal der Bundesregierung.“
Kritik gab es aber nicht nur dort: Selbst angesehenen Professoren der Kommunikationswissenschaft war die Phalanx aus Politik und Medien in der Frühphase der Corona-Zeit zu geschlossen. Otfried Jarren, emeritierter Professor der Universität Zürich, Experte für politische Kommunikation und bislang nicht als besonders umstürzlerisch aufgefallen, schrieb in einem Beitrag für den Fachdienst epd medien (27. März 2020): Das Fernsehen präsentiere sich „als eilfertiges, omnipräsentes öffentliches ‚Systemmedium’“, „Exekutive, Experten und Journalistenkollegen [blieben] als Eigenexperten unter sich.“ Jarren bedient sich hier nur scheinbar eines rechten Schlagworts, vielmehr deckt er die verbreitete „Hofberichterstattung“ in Zeiten der Krise auf. Auch andere Vertreter seines Fachs wunderten sich: „Geht’s auch mal wieder kritisch?“, fragte etwa Hektor Haarkötter in M – Menschen machen Medien, dem Blatt der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di.
Zu beobachten war das klassische „Rally ’Round the Flag“-Phänomen: Wenn es um Leben und Tod geht, schart man sich um die Regierung. Man zerpflückt nicht deren Aussagen, sondern unterstützt deren Maßnahmen gegen einen gemeinsamen, gefährlichen Feind. Das machen offensichtlich auch formell unabhängige Journalisten in liberalen Demokratien. So gesehen, ist das Medienverhalten im Fall Corona nicht neu: Ganz ähnlich war es etwa im Kosovo-Krieg 1999 (gegen Milošević!) oder in der Ukraine-Krise 2014 (gegen Putin!), ja sogar in der Finanzkrise 2008: Im Angesicht der Kernschmelze des Weltfinanzsystems folgten auch da die großen deutschen Medien grosso modo den Narrativen von Politik und Bankenaufsicht – und haben so wohl auch ein Panik-Wettrennen auf die Bankeinlagen verhindert.
In Krisenzeiten scheint die verantwortungsethische Haltung von Journalisten besonders ausgeprägt – sicher führt auch ein gefühlt hoher sozialer Druck zur Vereinheitlichung von Themenagenden und Meinungen. „Konformitätsdruck“ und „Homogenität“ in den Medien hatte sogar einmal Außenminister Frank-Walter Steinmeier beklagt, nachdem er 2014 in der Ukraine-Krise das „Säbelrasseln“ der NATO kritisiert hatte und sich allein auf weiter Flur in Opposition zum transatlantischen Medien-Mainstream befand.
Nun also ist der Feind, der die etablierten Medien und das politische Berlin zusammenschweißt, ein Virus. Und die Journalisten wehren sich gegen die Kritik, nicht kritisch genug gewesen zu sein, mit dem Hinweis auf die existenzielle Bedrohung durch Corona. Pressefreiheit bedeute auch, einmal nicht zu kritisieren, wenn es nicht sinnvoll erscheint, sagte der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes Frank Überall der Tagesschau (3. Mai 2020): „Wir müssen immer einen kritischen Geist haben, immer hinterfragen, aber in Notsituationen geht es eben erstmal darum, die Informationen zusammenzutragen, aufzubereiten und an die Öffentlichkeit auszuliefern.“ Ganz ähnlich die leitende NDR-Redakteurin Anja Reschke im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (2./3. Mai 2020): „Deshalb würde ich nicht sagen, dass Medien und Politiker Hand in Hand gingen. Vielmehr ist ein Vertrauen zwischen Politikern, Medien und Bevölkerung entstanden. Es ist klar, dass wir zusammenhalten und gemeinsam da durchkommen müssen.“
Das mag alles sein. Ich vertrete nicht die Auffassung, dass die Medien aus Prinzip immer „dagegen“ sein müssen. Ich beobachte aber, dass die Medien hierzulande im Prinzip immer „dafür“ sind. Denn auch außerhalb von Ausnahmezuständen wie der Corona-Krise ist es die Regel, dass der Journalismus in weiten Teilen eben nicht alles kritisch hinterfragt. Das Vertrauen zwischen Medien und Politik, das Anja Reschke als virusbedingtes neues Phänomen ansieht, ist essenzieller Bestandteil der politischen Ökonomie der etablierten Medien. Immer alles zu hinterfragen wäre viel zu teuer. Viel billiger ist es, die Diskussion zwischen etablierten, glaubwürdigen Sprechern in der öffentlichen Arena einfach abzubilden.
Und eben das macht der Nachrichtenjournalismus à la Tagesschau – also jener Teil der Berichterstattung, an den die Anforderung der Objektivität und Neutralität am stärksten gestellt werden. Das schmutzige Geheimnis des vermeintlich objektiven, neutralen Nachrichtenjournalismus ist, dass er in Wahrheit nicht die Welt oder die Wirklichkeit objektiv und neutral abbildet, sondern lediglich den Diskurs der politischen Eliten (gegebenenfalls auch der wirtschaftlichen und kulturellen) über diese Wirklichkeit. Gibt es in Krisenzeiten – egal ob Corona oder Ukraine – einen starken Konsens zwischen diesen Eliten, keinen Streit zwischen etablierten Akteuren, der abzubilden wäre, dann ist es auch mit der Kritik im Journalismus nicht weit her. Und das ist wohl auch ein Grund dafür, dass in der Bevölkerung verschwörungsideologisch aufgeladene und die tatsächlichen Verhältnisse stark verzerrende Vorstellungen über das Geflecht von Politik und Medien herrschen. Die Langzeitstudie Medienvertrauen der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz stellt zu Aussagen wie „Die Bevölkerung wird von den Medien systematisch belogen“ und „Politik und Medien arbeiten Hand in Hand, um die Bevölkerungsmeinung zu manipulieren“ seit Jahren beachtliche Zustimmungswerte zwischen 13 und 27 Prozent fest.
Dass kritische Medienberichterstattung keine konstante Eigenleistung des Journalismus ist, sondern von Konfliktkonstellationen im politisch-parlamentarischen Raum abhängt, das wird in der Kommunikationswissenschaft seit Jahrzehnten theoretisch unter dem Begriff „Indexing-Hypothese“ verhandelt und empirisch immer wieder nachgewiesen. „Indexing“ meint, dass die Medien die Meinungsspanne innerhalb des politischen Establishments anzeigen (indexieren) – und zwar nicht nur im Nachrichtenteil. Auch in Kommentaren wagen sich Journalist/innen in der Regel nicht über die aktuell in offiziellen Kreisen akzeptierten Positionen hinaus. Denn auch das wäre mit Kosten verbunden: Kritik hochrangiger Amtsträger kann zu sozialer Isolation im Elitenmilieu führen, zum Versiegen von Quellen und so weiter.
Da der Nachrichtenjournalismus als Kern des medialen Mainstreams also so offensichtliche Schwächen hat – allen voran die enge Bindung an den Elitendiskurs und die Abhängigkeit von der Öffentlichkeitsarbeit etablierter Institutionen –, sind neben dem klassischen Berichterstattungsmuster des „Objective Reporting“ seit über 100 Jahren immer wieder neue Spielarten des Journalismus entwickelt worden, die als Ergänzungen diese Schwächen kompensieren sollen. So erzählt es Klaus Meier, Professor für Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt in seinem Lehrbuch „Journalistik“, das wir im Zentrum Journalismus und Demokratie der Universität Leipzig in Seminaren mit Lehramtsstudierenden durcharbeiten, um – auch als Reaktion auf die „Lügenpresse“-Debatte – Journalismuskompetenz in die breite Bevölkerung und in die nachwachsenden Schülergenerationen zu tragen. Diese ergänzenden Berichterstattungsmuster reichen vom „Investigative Reporting“, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts Amtsmissbrauch, Korruption und andere Missstände enthüllt, über den „Precision Journalism“, der seit den 70er Jahren selbst Daten sammelt und auswertet, um Berichterstattung exakter und unabhängiger von PR zu machen (heute: „Datenjournalismus“), bis zum „Partizipativen Journalismus“, der die Nutzer bei der Konstruktion der Medienrealität aktiv mit einbezieht.
Der jüngste Trend, der seit etwa 2015 in der Branche diskutiert wird, ist der „Konstruktive Journalismus“. Dessen Vertreter/innen kritisieren die mediale Konzentration aufs Negative, auf Kriege, Krisen, Katastrophen, Krankheiten und Konflikte, und suchen Lösungen: Recherchen über gelungene Projekte und bewältigte Probleme, damit die Nachrichtenkonsumenten nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern sich einbringen. Denn aus der Psychologie wissen wir, dass Hilflosigkeit erlernt werden kann – auch durch Nachrichten, die Hilflosigkeit vermitteln. Interessanterweise bedienen die meisten Verfechter des Konstruktiven Journalismus die klassische Objektivitätsrhetorik: Keine Angst, wir sind keine Aktivisten, sondern neutrale Beobachter; wir wollen nichts bewerben, wir wollen unvoreingenommen berichten – aber mit unserem Ansatz erfahrt ihr nicht mehr nur die halbe Wahrheit, sondern die ganze; eben nicht nur das Problem, sondern auch die Lösung.
Es ist für einen Kommunikationswissenschaftler, in dessen Fach schon vor Jahrzehnten die Möglichkeit einer unverzerrten Abbildung der Realität aus erkenntnistheoretischen Gründen zu Grabe getragen wurde, befremdlich mit anzusehen, wie selbst Journalisten mit einer offensichtlichen Agenda am Fetisch der „Objektivität“ festhalten. Es ist zugleich für einen Kommunikationswissenschaftler, der mit der Erderhitzung eine weit gefährlichere Krise als Corona heraufziehen sieht, unbefriedigend zu sehen, dass die „Rettung der Welt“ (so sie denn noch möglich sein sollte) auch von Journalistenseite so halbherzig flankiert wird, weil man sich auf keinen Fall mit einer Sache gemein machen will, auch nicht mit einer guten, um hier ein häufig missverstandenes Bonmot von Hanns Joachim Friedrichs zu zitieren.
Nach meiner Auffassung ist es höchste Zeit, den „Konstruktiven Journalismus“ weiterzuentwickeln zu einem neuen Berichterstattungsmuster, der den auf Eliten und den Status quo fixierten Mainstream-Journalismus ergänzt und den ich „Transformativen Journalismus“ nenne: Berichterstattung, die sich klar zu den Werten einer „Großen Transformation“ in Richtung Nachhaltigkeit bekennt, in ökologischer wie auch sozialer Hinsicht. Wir brauchen Journalist/innen, die Inseln der Zukunft und Praktiken einer neuen, nachhaltig organisierten Welt bewusst suchen und für sie Öffentlichkeit herstellen, auf dass diese ökosozialen Innovationen sich verbreiten und weiterentwickelt werden können. Ein solcher „Transformativer Journalismus“ soll die Trennung von Bericht und Meinung nicht aufgeben und auch kein Parteijournalismus sein, aber bei der Auswahl der Themen und bei Analyse und Kommentierung den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als Priorität anerkennen – ebenso wie den Schutz der Demokratie, der bereits als solche anerkannt ist. Das wird zwar die rechte „Lügenpresse“-Fraktion, die die Geschichte eher zurückdrehen und in den Medien vor allem nationalistisch-chauvinistische Sichtweisen gespiegelt sehen möchte, nicht besänftigen. Aber er ist im Zeitalter des Anthropozäns und des Kapitalozäns, in der der Mensch die Erde aus Gewinnstreben und Konsumsucht für ihn selbst tendenziell unbewohnbar macht, wohl eine notwendige Bedingung für einen enkeltauglichen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft.
Dr. Uwe Krüger ist Forschungskoordinator am Zentrum Journalismus und Demokratie der Universität Leipzig (JoDem). Aus: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 6/2020. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Schlagwörter: "Transformativer Journalismus", Journalismus, Nachrichtenjournalismus, Objektivität, Pressefreiheit, Uwe Krüger