24. Jahrgang | Nummer 24 | 22. November 2021

Film ab

von Clemens Fischer

Selten ist Weltliteratur um billiger visueller Schockeffekte und anderer cineastischer Missgriffe halber brutaler und künstlerisch respektloser verhackstückt worden als in diesem Falle Stefan Zweigs „Schachnovelle“. Haupttäter – Eldar Grigorian (Drehbuch) und Philipp Stölzl (Regie). Letzterer ist bisher mit Filmen wie „Nordwand“, „Der Medicus“ und „Ich war noch niemals in New York“ durchaus unterhaltend in Erscheinung getreten, aber leider offenbar unwillig oder außerstande, dem damit abgesteckten künstlerischen Horizont durch Tiefgang mehr als nur eine weitere Facette hinzuzufügen.

Besonders übel bei dieser vermurksten Adaption: Nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland wird der Protagonist – wegen Aussageverweigerung – durch den verhörenden Gestapo-Schergen und von dem so bezeichnet der „Sonderbehandlung“ überstellt. Und die besteht im Film darin, dass dieser Protagonist, weil er die Aussage standhaft weiter verweigert, nach einem Jahr Isolations- und anderer Folter – in die Freiheit entlassen wird. Mit einer Bemerkung, wie sie der Art unterlegener fairer Sportsleute eigen ist: Er hätte halt gewonnen. Nur zur Erinnerung (und die Filmemacher hätten dies etwa in der taz nachlesen können): „‚Sonderbehandlung‘ war das Codewort der SS für die Ermordung der europäischen Juden.“

Übrigens: Wie weitgehend man – entsprechende Entschlossenheit vorausgesetzt – Zweig entstellen kann, hatte bereits die erste (westdeutsche) Verfilmung der „Schachnovelle“ von 1961 (Hauptrolle: Curd Jürgens) gezeigt: Da war dem Protagonisten eine Frau hinzuerfunden worden – zunächst von dessen künftigem Gestapo-Vernehmer auf ihn angesetzt, dann für ihn Sympathie entwickelnd und seine Freilassung betreibend, um schließlich mit ihm zu happyenden. Das passte wohl seinerzeit in die BRD-spezifische „Aufarbeitung“ der Nazi-Zeit: Auch unter den aktiven Mitläufern hatte es gute Seelen gegeben, in die man sich als Geschundener des Regimes sogar verlieben konnte …

Da die Schöpfer des aktuellen Films ihrem Werk tatsächlich ein „nach Stefan Zweig“ beigegeben haben, stellt sich die Frage, ob es denn überhaupt etwas aus dem Original auf die Leinwand geschafft hat. Doch. Durchaus. Als sich – während der Atlantik-Überquerung zu Schiff – der Protagonist aus einem kiebitzenden Publikum heraus zum ersten Mal in die Schachpartie mit dem amtierenden Weltmeister einmischt, tut er es bekanntlich an die Adresse von dessen Gegner, und zwar bei Zweig mit folgenden Worten: „Nicht gleich vorziehen, sondern zunächst ausweichen! Vor allem mit dem König abrücken aus der gefährdeten Linie von g8 auf h7. Er wird wahrscheinlich den Angriff dann auf die andere Flanke hinüberwerfen. Aber das parieren Sie mit Turm c8-c4; das kostet ihn zwei Tempi, einen Bauern und damit die Überlegenheit. Dann steht Freibauer gegen Freibauer, und wenn Sie sich richtig defensiv halten, kommen Sie noch auf Remis. Mehr ist nicht herauszuholen.“ So wortwörtlich auch im Film.

Wie die Süddeutsche Zeitung dazu kam, in der Unterüberschrift ihrer Filmbesprechung, und zwar erkennbar ironiefrei, zu fragen, „Ist sein (Stölzls – C.F.) Film vielleicht sogar besser als das Buch?“, bleibt ihr Geheimnis. Und über den Sachverhalt, dass ausgerechnet dieser Streifen fünfmal für den Deutschen Filmpreis 2021 nominiert worden war, darunter als Bester Film, tröstet allenfalls hinweg, dass es zumindest zu diesem Gau nicht gekommen ist.

In Ordnung allerdings geht, dass Oliver Masucci, der Hauptdarsteller der jetzigen „Schachnovelle“, beim Deutschen Filmpreis 2021 als bester männlicher Darsteller geehrt wurde. Aber nicht für sein Agieren bei Stölzl, sondern in Oskar Röhlers Fassbinder-Film „Enfant Terrible“.

„Schachnovelle“, Regie: Philipp Stölzl. Derzeit in den Kinos.

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Dass Christoph Maria Herbst ein besonderes Händchen dafür hat, formidable Kotzbrocken großartig zu mimen, weiß man spätestens seit der fünf Staffeln umfassenden ProSieben-Serie „Stromberg“, die von 2004 bis 2012 lief und heute am Stück bei Netflix genossen werden kann.

Während jener Bernd Stromberg, für den man sich in praktisch jeder Folge so herrlich fremdschämen konnte, allerdings ein letztlich prolliger Fiesling war, ist der Kotzbrocken dieses Mal ein brillanter Jura-Professor der Goethe-Universität zu Frankfurt am Main, der sich auf seine gediegene Bildung, seine Intellektualität und nicht zuletzt seine Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis viel zugutehält und dem Studentinnen mit Migrationshintergrund, die in Prüfungen ihre Spickzettel gern in der Burka verstecken (O-Ton Christoph Maria Herbst alias Professor Richard Pohl), ein solcher Gräuel sind, dass er sich im Hörsaal nicht enthalten kann, sich auf eine Weise zu äußern, die heutzutage einen Shitstorm wegen Rassismus geradezu provoziert. Das kann inzwischen auch einen etablierten Angehörigen der wissenschaftlichen Elite durchaus den Arsch (nochmals O-Ton Professor Pohl) kosten.

Soweit die Ausgangssituation des Films, der dem Zuschauer zugleich ein Gefühl dafür vermittelt, wie missbrauchsanfällig zwar trainiertes Vermögen zu geschliffener Rhetorik sein kann, doch welch ausgesprochen intellektuelles Vergnügen solche Rhetorik zugleich zu bereiten vermag.

Hauptdarstellerin Nilam Farooq, in Berlin als Kind einer polnischen Mutter und eines pakistanischen Vaters geboren und aufgewachsen, ist in diesem Film, wie sie kürzlich in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung durchblicken ließ, nicht das erste Mal nach ihrem Aussehen besetzt worden. Und ihre migrantische Filmfamilie bedient so ziemlich jedes gängige Klischee – unklarer Aufenthaltsstatus, Leben in einer Hochhaussiedlung, prekäre Beschäftigung, Ärger mit der Polizei wegen Gewalttätigkeit des Bruders … Doch: „Der Film funktioniert nur so“, sagt Nilam Farooq. Und was sie von identitätspolitischen Kriterien – etwa, dass nur Schwule Schwule spielen dürften – hält, stellte sie bei gleicher Gelegenheit klar: Die sollten bei der Besetzung von Rollen keine Rolle spielen. Anderenfalls „bräuchte es meinen Beruf nicht mehr“.

„Contra“, Regie: Sönke Wortmann. Derzeit in den Kinos.