Der Kritiker Manfred Georg (1893–1965) schrieb in der Weltbühne 2/1924 über den neuen Film „Sylvester“: „Die Handlung in ‚Sylvester‘ umfaßt die Dauer einer Dreiviertelstunde. Ebenso lange läuft der Film.“ Was für eine Fassung hat Georg unmittelbar nach der Uraufführung des psychologischen Kammerspiels gesehen? Er erwähnt auch die Musik nicht, die vom gelegentlichen Weltbühnen-Autor Klaus Pringsheim (dem Zwillingsbruder Katia Manns) komponiert worden war. Es war die Stummfilmzeit, aber damals hatten die Premierenkinos eigene Orchester, die die Handlung begleiteten.
Der Film von Autor Carl Mayer und Regisseur Lupu Pick, heute Klassiker des deutschen Stummfilms, traf auf viel Unverständnis. Auch Georg nahm die damals neuartige Kameraführung und die ungewohnte Montage zwiespältig auf: „Die rasche Assoziation von Erinnerung und Haß und ihr Niederschlag in die Gegenwart wird durch die oft zu sehr betonte Kontinuität der Bewegung künstlich auf totem Gleis mattgesetzt.“
Doch hatte der Kritiker den Streifen wirklich nach den Intentionen der Macher gesehen? Vom Verleih wurden nach der Premiere Schnitte angesetzt. Das bewirkte auch, dass Pringsheims Musik nicht mehr zu dem nun kürzeren Werk passte. Es dauerte Jahrzehnte, bis Filmhistoriker die in deutschen Archiven vorliegende mit anderen Fassungen im Ausland vergleichen konnten. Schließlich wurde im Archiv der McMaster University im kanadischen Hamilton Pringsheims handgeschriebene Partitur entdeckt, die half, die Bildsequenzen in der richtigen Reihenfolge zu montieren.
Spannende Geschichten wie diese werden in der Ausstellung „Frame by Frame“ der Deutschen Kinemathek in Berlin nicht nur erzählt, sondern durch viele Exponate anschaulich gemacht. Erstmals können Zuschauer Einblick nehmen, welche Mühe die Filmrestaurierung macht – und welche Befriedigung sie sowohl bei den Forschern als auch bei den Zuschauern auslösen kann. Die Deutsche Kinemathek verfügt über ein Budget, das die Restaurierung von 25 programmfüllenden Filmen pro Jahr erlaubt. De facto sind es mehr, denn auch viele Dokumentarfilme, Experimental- und Kurzspielfilme werden für die Nachwelt gerettet. Doch wo mit der Auswahl beginnen? Sicherlich spielt der Zustand des Ausgangsmaterials eine Rolle, denn viele Filme zersetzen sich durch ungenügende Lagerung und chemische Prozesse selbst. Doch auch inhaltliche und kulturhistorische Aspekte gilt es zu beachten.
Ein spektakuläres Beispiel war die Restaurierung von Fritz Langs bombastischem Zukunftsfilm „Metropolis“ von 1926/27, der immer wieder in unterschiedlich verstümmelten Fassungen in der ganzen Welt lief. Fritz Lang arbeitete zu Beginn der siebziger Jahre beratend mit dem Staatlichen Filmarchiv der DDR zusammen, das im internationalen Kinemathekenverbund eine Maximalfassung erarbeitete. Nach weiteren Funden wurde 2001 eine annähernd stimmige Version auf der Berlinale vorgestellt, die ein paar Jahre später nach der Entdeckung weiterer Szenen in Argentinien nochmals vervollständigt werden konnte. In der Weltbühne 3/1927 schrieb Axel Eggebrecht (1899–1991): „Es wurde ein gigantisches Labyrinth von Halbheit und Mißverständnis wahrhaft Spiegel und Abbild seiner Zeit. Alle Strömungen, alle Möglichkeiten, alle Richtungen des Geistes wollte Lang zusammenfließen lassen und sich aussöhnen im Über-Chikago der angeblichen Zukunft, wie sie damals die kranke Phantasie der Menschen sich ausmalte. (…) Ein ungeheuerliches Stückwerk fiel jammervoll auseinander.“
Dieser bis dato teuerste und tricktechnisch innovativste Film der Ufa litt unter der verquasten, sozialversöhnlerischen Botschaft, die dem Film von der späteren Nationalsozialistin Thea von Harbou als Szenaristin verpasst wurde. Ein inhaltlich konträres Beispiel findet sich mit „Das alte Gesetz“ in der Ausstellung. Der Film des Regisseurs E. A. Dupont, der nach Aufzeichnungen des Wiener Burgtheaterdirektors Heinrich Laube 1923 entstand, erzählt von einem jungen Juden (Ernst Deutsch), der in seiner galizischen Heimat aufbricht, um Schauspieler zu werden und es schließlich ans Burgtheater schafft. Man sieht an Beispielen in der Ausstellung, wie dieser Film, der in der Nachkriegszeit verschollen war, in erbärmlichen Kopien in ausländischen Archiven wiedergefunden werden konnte. Der Film, über den Weltbühnen-Autor Frank Warschauer (1892–1940) im Blatt 1924 schrieb, hier sei ein „angenehmes Gebilde geschaffen, das einige Kenntnisse vermittelt und geeignet ist, zu Erkenntnissen anzuregen“, erzählt viel vom jüdischen Leben in jenen Jahren und stellt ein wichtiges kulturelles Zeugnis dar.
Wer jedoch meint, die Restaurierung von Filmen, die Einzelbild um Einzelbild erfolgt, „Frame by Frame“, beziehe sich nur auf das Filmschaffen vor Gründung der beiden deutschen Staaten, liegt falsch. Auch Filme, die in den fünfziger bis achtziger Jahren keine massenhafte Verbreitung fanden, liegen nicht mehr in vorführfähigen Fassungen vor. Glücklicherweise ist es oft möglich, mit den Filmemachern selbst zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel ist der 1971 erschienene Avantgardefilm „Berliner Bettwurst“ von Rosa von Praunheim mit zahlreichen sexuellen Anspielungen. Die missfielen Zensoren in verschiedenen Gremien, so dass Praunheim selbst mehrere Schnitte vornahm, um den Film zu retten, bis er schließlich nur Fragment blieb. Was bei der Wiederherstellung beachtet werden musste, zeigt die Ausstellung, bei der auf Leinwänden und an Monitoren viele Ausschnitte gezeigt werden und viele Filmhistorikerinnen und -historiker von ihrer Arbeit erzählen.
Frame by Frame – Film restaurieren. Kurator: Martin Koerber, Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Filmhaus, Potsdamer Str. 2, 10785 Berlin, bis 2.5.22, täglich außer montags.
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