Es lohnt, alte Bücher zu entdecken, auch Englisch geschriebene: Wir sind in West-Berlin nach 1980, der Zeit von Hausbesetzungen, ungeschliffener Punk-Musik und schriller Bands, die sich einer „Neuen Deutschen Welle“ zurechnen. Die Helden von einst, sich nun „Achtundsechziger“ nennend, sind auf dem Marsch durch die Institutionen. Gut fünfzehn Jahre vorher drängten sie ihre Eltern, Lehrer und Professoren mit bohrenden Fragen nach deren Vergangenheit in die Defensive. Die „Zuspätgekommenen“, nur eine halbe Generation jünger, suchen nach ihrem Lebenskompass. Noch manche ihrer Eltern waren in die Untaten des „Nationalsozialismus verstrickt“ – allein die Wortwahl ist bezeichnend. Um all dies und mehr geht es in Susan Neimans erstem Buch, „Slow Fire“ von 1992 – leider hier fast unbekannt, da nie ins Deutsche übersetzt. Seine amerikanisch-jüdische Autorin ist damals Doktorandin der Philosophie in Harvard. Ein Auslandsstipendium führt sie an die Freie Universität.
Ein typischer Nach-Achtundsechziger ist Dieter, ein Maler, politisch links und kulturell interessiert. Er ist der süddeutschen Provinz und dem Wehrdienst nach West-Berlin entflohen. Dieter und Susan werden ein Paar. Doch Dieter ist nicht nur von seinen Stimmungen allzu abhängig, er ist auch ein Produkt mangelnder Aufarbeitung der Vergangenheit. Dies zeigt eine Schlüsselszene des Buches:
„Kein junger Deutscher könnte eine normale Beziehung zu dir entwickeln“, sagte Dieter und starrte auf seine Füße. „Vielleicht kann man sie entwickeln“, räumte er ein, „aber sie wird nie von Anfang an da sein.“ – „Was meinst du damit?“ – „Schau mal. Immer wenn ich dich sehe, denke ich an Dachau.“
Dieter „lebte voller Angst vor einer inneren Dunkelheit.“ Susan sucht zu verstehen und ihm zu helfen. Und doch tut sich eine Kluft auf, die nicht zu überbrücken ist. Das Paar trennt sich ohne äußeres Zerwürfnis in einer dennoch bewegenden Passage des Buches. Wenig später trifft Susan Michael, von dem sie sich Halt erhofft. Sie heiratet ihn und bekommt einen Sohn.
Die Chronistin ist eine scharfe Beobachterin. Sie sieht, wie das Insel-Klima der Stadt eine paradoxe Situation geschaffen hat, in der ein Bekenntnis zum orthodoxen Kommunismus unter jungen Menschen als modisch gilt. Ihre intensivsten politischen Gespräche aber führt Susan, die entschieden links, doch keine Kommunistin ist, mit kommunistischen Emigranten aus Lateinamerika. Sie denkt über Freiheitsrechte in Ost und West nach. Bemerkenswert ist, wie gleichberechtigt Frauen und Männer dabei miteinander umgehen.
In Ost-Berlin erlebt Susan, was trotz aller Defizite unstreitig zum Guthaben der DDR gehörte: einen Antifaschismus, der im Denken der Ostdeutschen Spuren hinterlässt – wie eilfertig diese Spuren später getilgt werden, vermag noch niemand zu ahnen.
„Slow Fire“ ist in der Bibliothekswissenschaft die Versprödung von Papier durch Säurezerfall.
Auch Susan Neiman erlebt den Zerfall von Hoffnungen, nicht nur im privaten Bereich. Gegen den Rat ihrer Familie und Freunde war sie 1982 nach West-Berlin gekommen und bereit, sich auf die Deutschen einzulassen. Zwischen Belustigung und Beklemmung liest man, wie die Autorin angestaunt wird – eine Amerikanerin und dazu eine Jüdin; so anders aussehend als die Bilder von Krieg und Holocaust! Susan Neiman tut viel, um gutwilligen Deutschen die Verkrampfung zu nehmen, so sie mit einer Jüdin sprechen. Nur selten gelingt es ihr. Dass diese „dunklen Jahre“, wie ältere Deutsche raunen, noch kaum verarbeitet sind, wird ihr schließlich überdeutlich. Sie hängt an Berlin und erfährt auch echte, nicht aufgesetzte Anteilnahme deutscher Freunde. Doch gelangt sie zu dem quälenden Schluss, in Deutschland vorerst keine Familie großzuziehen. Ein Jahr vor dem Mauerfall verlässt Susan Neiman Berlin und schlägt eine akademische Laufbahn ein. Löst sie sich ganz von den Deutschen? „Vielleicht kommen wir zurück“, sagt sie einer jüdischen Freundin zum Abschied.
Zwölf Jahre später ist sie, nun Mutter von drei Kindern, nach Stationen an der Yale University und in Tel Aviv, wieder zurück. Sie sieht ein vielfältiger gewordenes Deutschland, das sich zunehmend seiner Vergangenheit stellt, obwohl Juden noch immer als fremd wahrgenommen werden und die Vergangenheitsaufarbeitung oft in rituellen Formen erfolgt. Die Philosophie-Professorin wird Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam, einer Bildungsstätte, die internationale Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur vorstellt. Der Beitrag, den die universalistisch denkende Amerikanerin zum Verständnis zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Ost- und Westdeutschen leistet, sei hier nur angedeutet. Nach Trumps Wahlsieg erwirbt Susan Neiman zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Deutschland ist jetzt auch ihr Land; der Ort ihres kritischen Engagements und ihres kämpferischen Humanismus.
„Slow Fire“ zeichnet ein erregendes, stilistisch treffsicheres Zeitbild; es wird diskutiert, geliebt, gelacht und Alkohol konsumiert wie in einem Thriller von Graham Greene. Doch erinnert das Buch auch an einen klassischen Bildungsroman – was Wunder, ist Susan Neiman doch Spezialistin für deutsche Philosophie der Zeit der Aufklärung, vor allem Immanuel Kant. Zudem weist „Slow Fire“ Berührungspunkte zu Rebecca Goldsteins Roman „The Late-Summer Passion of a Woman of Mind“ von 1989 auf. Auch sie ist Philosophin von Beruf; beide Autorinnen hielten einst die sehr renommierten Tanner-Lectures on Human Values an verschiedenen US-Universitäten. Eine deutsche Übersetzung fehlt auch hier.
Die deutsch-jüdisch-amerikanischen Beziehungen bilden wiederum den Handlungsrahmen. Eva ist eine deutsche Philosophie-Studentin in New York, Martin ihr Partner. Sie ist Tochter eines einst Nazi-begeisterten Musiksoziologen, er ist Sohn zweier Holocaust-Überlebender. Die Beziehung scheitert; Eva treibt ihr ungeborenes Kind ab. Sie muss neben diesem Trauma die Verehrung für ihren Vater in Einklang bringen mit dem einstigen Nationalsozialisten, dessen frühe Schriften sie in Israel entdeckt.
Gut zwanzig Jahre später sieht sich Eva, nun Philosophie-Professorin an einem College in Amerika, zu einem Studenten hingezogen. Eine ernsthafte Beziehung bleibt ohne Aussicht; ihr Wechselbad der Gefühle vermag Eva nicht aus dem Kokon zu lösen, den sie sich selbst aus den Maximen und Gedankensplittern von Platon bis Spinoza gewoben hat.
Liegt all dem eine „Pathologie der Vergeltung“ zugrunde, wie Robert Cohen meinte? Dies sei dahingestellt. Anders als Susan Neiman gibt Rebecca Goldstein einer Hoffnung auf Versöhnung keinen Raum. Die Erblast der Geschichte wiegt zu schwer. „Slow Fire“ aber möchte die Hoffnung bewahren und den Dialog für die Zukunft wagen. Können Deutsche durch den eigenen Lernprozess auch Amerikanern helfen, sich ihrer Geschichte von Rassismus und Sklaverei zu stellen? Davon handelt Susan Neimans jüngstes Buch „Von den Deutschen lernen“. Doch ist hier nicht der Platz, darüber zu berichten – ein anderes Mal mehr.
Susan Neiman: Slow Fire. Jewish Notes from Berlin, Schocken Books, New York 1992; Neuausgabe: Quid Pro Books, New Orleans 2010, 213 Seiten; antiquarisch erhältlich.
Rebecca Goldstein: The Late-Summer Passion of a Woman of Mind, Farrar, Strauss and Giroux, New York 1989, 261 Seiten; antiquarisch erhältlich.
Schlagwörter: "Slow Fire", Mario Keßler, Rebecca Goldstein, Susan Neiman