24. Jahrgang | Nummer 24 | 22. November 2021

Außenpolitische Vordenkerei

von Erhard Crome

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), im Selbstverständnis das deutsche „Institut für Internationale Politik und Sicherheit“, hatte pünktlich zur Bundestagswahl im September 2021 eine Studie publiziert unter dem Titel: „Deutsche Außenpolitik im Wandel. Unstete Bedingungen, neue Impulse“. Diese Überschrift verundeutlicht zunächst, worum es geht. Wann gab es je „stete Bedingungen“ für Außenpolitik? Und wer gibt „neue Impulse“? Die Welt Deutschland oder wieder einmal Deutschland der Welt? Auf insgesamt 130 Seiten haben 45 bei dem Institut angestellte oder ihm affiliierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 28 kompakt geschriebene Texte von meist vier bis fünf Seiten Länge verfertigt, die jeweils für sich genommen als außenpolitische Positionspapiere betrachtet werden können – offenbar in der Hoffnung, dass im Getriebe der „Aufmerksamkeitsökonomie“ auch mit Informationen übersättigte Politiker und Abgeordnete diese unter ihrer je spezifischen Perspektive zur Kenntnis nehmen und der Erleuchtung teilhaftig werden.

Keine in sich geschlossene Studie, doch es gilt, die politische Resultante, die strategische Perspektive zu sichten. Da dieses staatliche Institut als Beratungsorgan der Bundesregierung und zentraler außenpolitischer Entscheider gilt, steht hier Etliches, womit für die künftige Außenpolitik dieses Landes zu rechnen ist. Angezielt wird „eine neue Phase der deutschen Außenpolitik“ und explizit auf das berüchtigte Papier „Neue Macht, neue Verantwortung“ verwiesen, das die SWP gemeinsam mit dem German Marshall Fund der USA, ebenfalls mit Blick auf Wahljahr und künftige Regierungspolitik, im Jahre 2013 publiziert hatte.

Ausgangspunkt war die Lageeinschätzung, frühere enge Grenzen für deutsches Agieren in der Welt würden nicht mehr bestehen. Der liberale, kapitalistische Westen gelte weiter als Ordnung „von globaler Strahlkraft“. Deutschland werde diese Weltordnung erhalten, schützen und weiterentwickeln, denn es lebe „wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung“. Künftig werde Deutschland „eigene Interessen und Werte deutlich(er) akzentuieren“. Anspruch sei, eine der „führenden neuen Gestaltungsmächte“ in der Welt zu sein. Dem gegenüber wurden „Herausforderer“ identifiziert, zu denen vor allem Russland und China gerechnet wurden, ferner „Störer“, wie der Iran oder Venezuela.

Acht Jahre später ist von „Strahlkraft“ nicht mehr die Rede. Stattdessen sei „davon auszugehen, dass der Westen an Anerkennung verlieren und der Einfluss seiner Werte und normativen Vorstellungen (weiter) schwinden wird. Dies betrifft nicht nur die Führungsmacht USA, sondern insgesamt den Nato-Verbund, die EU und Deutschland.“ Im Gegensatz dazu wird jedoch proklamiert: „Mit dem Ende der ‚Ära Merkel‘ werden auch die internationalen Erwartungen an eine deutsche Führungsrolle neu sortiert.“ Das meint einerseits, der Westen werde insgesamt schwächer, Deutschland innerhalb dieses Gefüges aber stärker. Andererseits verbirgt sich hier die Sorge, für die kommenden grünen oder gelben Wichtel würden die Schuhe, die Angela Merkel hinterlässt, zu groß sein. Aber die hatte ja schon vorgesorgt und uns Herrn Maas zur Gewöhnung angetragen. Völlig ausgeblendet wird hier allerdings, worin denn eine „deutsche Führungsrolle“ bestehen sollte und wer sie erwartet. Gerade eben wurden aus Paris, Rom und Warschau klare Signale gesendet, man habe nicht die Absicht, sich wie bisher von Berlin aus führen zu lassen.

Diese Mischung aus Realitätsbezug und Illusionismus zieht sich durch die ganze Studie, zugleich jedoch die Bezichtigung von Herausforderern. Einerseits heißt es: „Auf internationaler Ebene untergräbt die strategische, zunehmend systemisch überhöhte Rivalität zwischen China und den USA die multilateralen Beziehungen.“ Das hieße im Klartext: Es gibt eine strategische Rivalität zwischen den USA und China, die die internationalen Beziehungen belastet sowie den Frieden in der Welt untergräbt, und die darin liegende Spannung wird zusätzlich „systemisch überhöht“. Offen bleibt, wer diese Verschärfung überhöht. Andererseits müht sich die SWP selbst, diese Überhöhung herbeizuschreiben.

So verweist der derzeitige SWP-Direktor Stefan Mair, früher beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) angestellt, auf das Scheitern der westlichen Fukuyama-Annahme: „Strategische Partnerschaften wurden auch mit Staaten eingegangen, die aus heutiger Sicht nur schwerlich einer solchen Rolle gerecht werden können. Deutschland tat das im Falle Chinas, die EU erhob China ebenso wie Russland zu strategischen Partnern. In den vergangenen Jahren jedoch ist das Bewusstsein gewachsen, dass die globale Konvergenz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft nicht nur ausbleiben könnte, sondern im Gegenteil womöglich divergente Tendenzen dominieren werden – dass man es in Zukunft also mehr mit Rivalen denn mit Partnern zu tun haben könnte.“ China und Russland kämen „folglich kaum noch als Partner in Betracht“. Partner wobei? Bei dem westlichen Bemühen um Beherrschung der Welt gewiss nicht. Wohl aber bei der Sicherung des Friedens und dem Bremsen des Klimawandels.

In anderen Papieren der Studie wird ebenfalls angemerkt, „dass die westliche Politik der Einbindung Chinas gescheitert“ sei, eben weil es sich nicht systemisch so verändert hat, wie es der Westen wollte. „Für die Erwartung, China werde sich wandeln, gibt es gegenwärtig kaum Anhaltpunkte“. Deshalb wird eine „neue China-Strategie der Bundesregierung angemahnt“. Unter Verweis auf Friedrich Merz – jetzt wieder ein präsumtiver CDU-Vorsitzender – wird gefordert, deutsche Unternehmen sollten lieber einmal mehr auf ein Geschäft mit China verzichten und stattdessen eher mit den USA, Großbritannien, Japan, Kanada, Australien und Neuseeland kooperieren. Am besten gleich „ein mächtiger handelspolitischer Block“, der die EU, die USA, Japan, Großbritannien und weitere Länder umfasst.

Am Ende wird „eine Lücke zwischen der Bedeutung von Sicherheitspolitik und der Wertschätzung, die sie von Politik, Gesellschaft und Medien erfährt“, moniert. Deshalb sei auch die „Pauschalkritik, mit welcher der Bundeswehreinsatz in Afghanistan als Teil eines westlichen Komplettversagens hingestellt wird“, fehl am Platze. „Abschreckung“ und Bundeswehr seien essentiell. „Sicherheitspolitik“ sei „mehr als militärisches Gewaltmanagement“ und müsse „eingebettet sein in eine übergeordnete Strategie, die auf Konfliktverhinderung und Konfliktregelung mit politischen und diplomatischen, wirtschaftlichen und finanziellen Mitteln setzt“. Deutschland müsse endlich einen höheren militärischen Beitrag leisten. Die „Lücke zwischen dem Wert von Sicherheitspolitik und deren Wertschätzung“ müsse geschlossen werden. Das Land könne sich sein „’freundliches Desinteresse’ gegenüber den eigenen Streitkräften […] nicht länger leisten“. Schlüssel sei „ein mentaler Wandel bei den politischen Entscheidungsträgern und ihre Bereitschaft, in der öffentlichen Rede kein Blatt vor den Mund zu nehmen: Militär und Rüstung sind unersetzbare sicherheitspolitische Instrumente. Als solche sind sie keine unliebsame Notwendigkeit, sondern stehen im Einklang mit Deutschlands Werten und dienen seinem Interesse an Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt und Partizipation.“ Die Frage ist nur, ob auch die Bevölkerung ihre Gesinnung wechselt, wenn die „Entscheidungsträger“ mental den Helm aufsetzen.

Dass das mit „Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt“ nicht so recht ernst gemeint ist, zeigt sich spätestens im letzten Papier des Konvoluts: „Am Ball bleiben: Deutsche Indo-Pazifik-Politik“. Das „wachsende Engagement Deutschlands und Europas im dortigen Raum“ werde zwar „mit hoher Wahrscheinlichkeit chinesische Gegenreaktionen hervorrufen“, der Preis dafür müsse aber „in Kauf genommen werden“. Wohlgemerkt, es geht nicht um chinesische Flottenparaden in der Nordsee, sondern um westliche Aufmärsche vor den Küsten Chinas, und zwar aufmunitioniert. Auch in dieser Studie wird zwar erklärt, Deutschland und die EU sollten sich stärker von den USA emanzipieren. Mit der Indo-Pazifik-Pointe allerdings wird dem das Wort geredet, sich den USA anzudienen.

Die „friedliche Koexistenz“ ungeachtet unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Verfasstheiten kommt in diesem Denken nicht vor. Eine darauf fußende Politik ist nicht friedenstauglich.