24. Jahrgang | Nummer 21 | 11. Oktober 2021

Vom Ende der Literatur

von Mathias Iven

Man hatte Angst vor der Macht des Wortes. Man hatte Angst vor denjenigen, deren Stimmen gehört wurden und die vor dem warnten, was kommen sollte. Die neue Regierung musste handeln. Sie wollte bestimmen, was man zukünftig – ganz im Sinne ihrer Ideologie – sagen und schreiben durfte. Und sie wollte auch darüber entscheiden, wer zum Kreis der geistigen Elite gehören sollte …

Es waren gerade einmal sechs Wochen, die zwischen Hitlers Machtantritt und der Ernennung von Joseph Goebbels zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda lagen. Zeit genug, um den gesamten Kulturbetrieb umzukrempeln. Was in diesen Tagen genau passierte, das beschreibt Uwe Wittstock in seinem jüngsten Buch. Es geht darin, wie er eingangs betont, nicht um irgendwelche „Heldengeschichten“. Wir treffen Menschen, die die drohende Gefahr nicht wahrhaben wollten, die die Situation unterschätzten und zu langsam reagierten. Nur wenige ahnten, wozu Hitler und seine Gefolgsleute fähig waren. Zu ihnen gehörte Carl von Ossietzky, der Chefredakteur der Weltbühne. Noch am Abend des 30. Januar 1933 erklärte er auf einer Versammlung des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller: „Das alles wird viel länger dauern, als Sie meinen. Vielleicht Jahre. Dagegen sind wir machtlos.“

In den folgenden Tagen wurde sehr schnell klar, „wen es treffen würde: wer um sein Leben fürchten und fliehen musste und wer antrat, um im Windschatten der Täter Karriere zu machen“. Erich Kästner, dessen Bücher auf dem Scheiterhaufen landen sollten und der sich der ihm drohenden Gefahr durchaus bewusst war, blieb dennoch in Deutschland. Als Zeitzeuge wollte er miterleben, was sich in den kommenden Jahren ereignen würde. Die Geschichte sollte ihm den Stoff für eine literarische Abrechnung liefern. Doch es kam anders. „An meinem Unvermögen, den Roman der Jahre 1933 bis 1945 zu schreiben, zweifelte ich sehr viel früher als an der Möglichkeit, daß er überhaupt zu schreiben sei.“ Und er musste sich eingestehen: „Das Tausendjährige Reich hat nicht das Zeug zum großen Roman. Es taugt nicht zur großen Form“.

Die Ereignisse überschlagen sich. Am 6. Februar erlässt Reichspräsident Hindenburg die Notverordnung „Zur Herstellung geordneter Regierungsverhältnisse in Preußen“ und löst den preußischen Landtag auf. In der Woche darauf, Hitler war seit 14 Tagen an der Macht, lädt Bernhard von Brentano einige seiner Kollegen zu sich nach Hause ein. Es steht die Frage im Raum: Was können wir als Schriftsteller jetzt tun? Stundenlang diskutieren Anna Seghers, Leonhard Frank, Alfred Döblin, Rudolf Olden, Johannes R. Becher, Hermann Kesten und Heinrich Mann über diese Frage. Bertolt Brecht, dessen Stücke nicht mehr gespielt werden dürfen und der schon mehrere Drohbriefe erhalten hat, denkt an „eine Schutzstaffel für bedrohte Schriftsteller“. Davon halten die anderen nichts. Wie sollte man das auch bewerkstelligen? Mit einem Gefühl von Hilflosigkeit gehen sie auseinander.

Immer mehr Schriftsteller verlassen das Land, noch nie waren es so viele wie im Februar 1933. Heinrich Mann löst eine Fahrkarte nach Frankfurt am Main, tags darauf ist er bereits in Frankreich. Es folgen Walter Mehring und Theodor Wolff, der Chefredakteur des Berliner Tageblatts. Bertolt Brecht und Helene Weigel entkommen nach Prag. Wenige Stunden vor ihrer Abfahrt hat man Ossietzky und Erich Mühsam verhaftet – beide werden das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nicht mehr erleben.

Hitler beruft für den 28. Februar das Kabinett zu einer neuerlichen Sitzung ein. Er legt zwei Dokumente vor, die er sich im Anschluss von Hindenburg unterschreiben lässt. Mit sofortiger Wirkung treten die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ sowie die „Verordnung gegen Verrat am Deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe“ in Kraft. Eine Rede-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit existiert praktisch nicht mehr, das Post- und Telefongeheimnis ist aufgehoben, die Unverletzlichkeit der Wohnung und des Eigentums gehört der Vergangenheit an. Einen Vorgeschmack auf die grenzenlose Willkür der kommenden Jahre bekommt die Dresdner Bevölkerung am 7. März 1933. Zwei Monate bevor auf dem Berliner Opernplatz tausende Bücher in Flammen aufgehen, stürmen SA-Männer die sozialdemokratische „Volksbuchhandlung“ in der Großen Meißner Straße, reißen alles aus den Regalen, werfen es auf einen Haufen und zünden es an.

Das ungeheuerliche Geschehen der damaligen Wochen zusammenfassend schreibt Uwe Wittstock: „Manche Laufbahn, die hoffnungsvoll startete, erholte sich von diesem Monat nicht mehr. Allzu viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen verstummten und verschwanden fast spurlos. Eine lebensentscheidende Wende war es für alle.“ Wittstocks Buch steht in einer Reihe mit den Veröffentlichungen von Anatol Regnier („Jeder schreibt für sich allein“) und Peter Walther („Fieber. Universum Berlin 1930–1933“). In seiner Darstellung mag zwar der eine oder andere Name fehlen, doch davon abgesehen hat der Autor eine äußerst fundierte, durch Quellenmaterial belegte und zugleich packend geschriebene Studie vorgelegt, die einmal mehr zeigt, wie totalitäre Systeme gegen Andersdenkende vorgehen.

Uwe Wittstock: Februar 33. Der Winter der Literatur, Verlag C. H. Beck, München 2021, 288 Seiten, 24,00 Euro.