Der humanistisch gebildete Mensch weiß ganz einfach, dass unser klassischer Vater Goethe seinem vielfach studiert habenden Helden Faust eine besonders kreative Projektliebe zum Licht, zur Sonne oder zu den Farben auf den Leib geschrieben hat, die diesen mit tatkräftiger Hilfe durch den Paredros Mephistopheles auf einen vorderen Platz in der ewigen Rankingliste weltkultureller Persönlichkeiten und Werke gehoben hat. Bei allen Mühen, in diesem rastlosen und freiheitlichen Ehrgeiz, selbst verpestete Sümpfe trocken zu legen, eine wirklich sozial gerechte „Sonnenbaulehre“ ist da nur durch geistige Anstrengungen zu erkennen. Der Dichter war „schlussendlich“ ein Weltgeist und kein nach Kosten und Nutzen kalkulierender Bauunternehmer.
Dennoch, die mit dem unsterblichen Namen Faust verbundene Sonnenbaulehre hatte selbstverständlich auch etwas Visionäres an sich: „Zur Sonne, rechtwinkelig nach Mittag, sollten alle Häuser der Menschen mit ihren vordern Hauptseiten gerichtet seyn; zum Höchsten – das Höchste sollte ewig dem Menschen Ziel seyn – gerichtete Häuser, mehr lang, als tief, gebaut, haben vorn Rasenplätze mit Blumen und Büschen (keine Bäume); und hinten Höfe, mit Hofgebäuden, vom Hause entfernt und getrennt, am Ende des Hofes!“
An dem vielleicht sprachlich etwas holperigem und schon aus diesem Grunde keinesfalls Goethischen Zitat verblüfft heuer besonders, dass es weder einer modernen Fibel für Architektur-Erstsemester, noch gar einer kultusministeriellen Direktive für weitere künftige Bauhausmuseen entnommen ist. Es werden ja nicht einmal marktgerechte Investitionspflichten erwähnt!
Dieses Idealbild einer menschenfreundlichen urbanen Architektur stammt vielmehr aus der Feder eines Herrn Faust, der wunderbarerweise ein Zeitgenosse Goethes und außerdem ein vielseitig gebildeter und interessierter Mediziner gewesen ist.
Bernhard Christoph Faust (1755–1842), der promovierte Arzt aus Rotenburg an der Fulda, hat in seinem beruflichen Leben zahlreiche Dienstverhältnisse in Deutschland und Europa durchlaufen, die ihn in Übereinstimmung mit dem ihm eigenen ärztlichen Ethos veranlassten, sich unter anderem mit der Geburtshilfe, mit der Pockenbekämpfung oder mit dem Sanitätswesen im Kriege zu beschäftigen. Über allen seinen Professionen stand – auf ganz moderne Weise – die Frage, welchen Zusammenhang es zwischen der Gesundheit des Menschen und den dafür notwendigen sozialen Voraussetzungen gibt. Doktor Faust war der erste deutsche Arzt, der im Lichte der Aufklärung einen „Gesundheitskatechismus zum Gebrauch in Schulen und beim häuslichen Unterricht“ verfasste und herausgab. 1800 erschien das Buch bereits in achter Auflage mit allen notwendigen Regeln und Erkenntnissen zur Bekämpfung selbst pandemischer Plagen im Homeoffice nach den Grundsatz: „Ja, die Kinder haben sehr häufig die nämlichen Fehler und Mängel wie ihre Aeltern; und sie verfallen sehr oft mit der Zeit in die Krankheiten ihrer Aeltern.“
Auch Fausts spezielle Sonnenbaulehre diente der Volksaufklärung und schärfte in erster Linie den Blick für Möglichkeiten zur Verbesserung der sozialen Wohnverhältnisse. Er musste nicht einmal so sehr viel Neues erfinden. Faust ließ sich sowohl von dem antiken römischen Architekten Vitruv als auch von dem berühmten griechischen Philosophen Sokrates inspirieren. Nicht nur die Stararchitekten absolutistischer Sonnenfürsten entwarfen und konstruierten ganze Schlossanlagen und Gärten auf dem Reißbrett. Das konnte Faust auch, nur die Zielgruppen standen in der gesellschaftlichen Ständepyramide etwas tiefer und strebten auch nicht so direkt nach 200-Zimmer-Quartieren.
Aufgelockerte Siedlungen, nach Süden geöffnet, Rasenflächen, Spielplätze, Beheizung aller privaten und öffentlichen Gebäude durch erwärmte Luft, Einführung beweglicher und geruchloser Abtritte – dahinter stand eine Idee, die Faust jedem Mann mit auf den Weg gab, der die schöne Lehre im praktischen Städtebau umsetzen wollte: „Er helfe fördern und mehren den Sonnenbau in aller Welt; lehre in jedes Haus – daß es den Menschen zum Tempel werde – aufnehmen die Sonne; helfe, als Architekt, wie in ältesten und römischen … Zeiten Würfelsteine und Bruderliebe, Hülfe und Treue frei und fest in Eins verbinden; stifte, wie er in Deutschland begonnen und zum Theil schon getan hat, eine große, geordnete Verbindung zwischen Baumeistern aus aller Welt und daß überall öffentliche Vereine für Bauwesen und Landesverschönerung sich bilden.“
Der von Faust mit dieser Erzählung (oder in diesem Narrativ, wie moderne Politikwissenschaftler sich so jugendnah und kokett ausdrücken) konkret favorisierte Baumeister war Gustav Vorherr (1778–1847), ein bayrischer Staatsbeamter und Vorkämpfer des Denkmalschutzes. Beide waren sich darin einig, dass urbane Bauplätze nicht von Einzelnen willkürlich ausgestaltet werden dürfen, denn „die Erfahrung hat gelehrt, daß Einzelne, sich selbst überlassen, nicht einmal im Stande sind, eine gerade Baulinie einzuhalten, was unsere größten Teils krummen, buckligen und hässlichen Städte, Märkte und Dörfer zur Genüge bezeugen“. Vorherr setzte ein Zeichen und baute in München die Sonnenstraße nach den Vorstellungen der Sonnenbaulehre Fausts. Entlang der damaligen Stadtbefestigung westlich des Karlsplatzes errichtete er gegenüber dem Karlstor den Neubau unter Einschluss seines eigenen Wohnhauses – das heutige Hotel Königshof erinnert noch daran.
Fausts Vision und Vorherrs Baukunst beflügelten selbst monarchische Investoren: Bayerns König Ludwig I. ging mit gutem Beispiel voran und ließ „seine jetzige Wohnung in einem edlen Styl mit der Hauptseite zur Sonne erbauen“. Und die Regierung des Bundeslandes Hessen verleiht bis heute dankbar alle zwei Jahre die „Bernhard-Christoph-Faust-Medaille“ – allerdings „nur“ für besondere Verdienste im Gesundheitswesen. Die Problemsicht der beiden Sonnenbaulehrer erreichte eigentlich alle Elemente einer Baukunst, die über die Jahrhunderte in den Alltag jedes Architekten eingedrungen, aber auch in quälende bürokratische Vorschriften einbetoniert worden sind.
Eine Frage bleibt beim Studium aller Elemente der historischen und sozial gedachten Sonnenbaulehre offen: entsprechen die anfallenden Bau-, Kauf- oder Mietkosten dem gleichen sozialen Engagement der Ideengeber? Da kommt dann Goethes Faust doch noch mit leichter Hand und der berühmten „Gretchenfrage“ ins indirekte Spiel: „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, Allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“ Doch das wollen wir den viel gerühmten Schöpfern der Sonnenbautheorie gar nicht erst unterstellen. Sie standen fest in dem Glauben, dass der technologische Fortschritt Gutes im Menschen bewirken – kann.
Schlagwörter: Bernhard Christoph Faust, Detlef Jena, Gustav Vorherr, Johann Wolfgang von Goethe, Sonnenbaulehre