24. Jahrgang | Nummer 21 | 11. Oktober 2021

Im Glashaus der Gegenwart – Neues aus dem Burgtheater

von Joachim Lange

Das Wiener Burgtheater bietet allen Viel und jedem Etwas. Deutschsprachige Schauspielkunst bezieht hier ihre Maßstäbe. Das gilt immer noch. Obwohl sich der neue Burgtheaterdirektor Martin Kusej den Forderungen des Zeitgeistes und seiner Aktivisten stellt und bewusst diversifiziert. Am Burgtheater kann man allemal dem Leben zuschauen, wie es sich auf der Bühne spiegelt. Und weil das – auch in Wien – in vielerlei Hinsicht bunter ist, als früher, hat das (wohl zwangsläufig) natürlich auch Auswirkungen auf die Sprache, also das Allerheiligste dieses Hauses, und zum Beispiel auf die Hautfarbe der Protagonisten. Ob das auch Spielarten von diverser Identität, wie etwa die sexuellen Präferenzen der Akteure betrifft, sei mal dahingestellt. Ein Einstellungsgespräch, bei dem jemand sich gegen seinen Willen als schwul oder lesbisch outen müsste, kann man sich schwer vorstellen, schon weil damit die realen Fortschritte beim Ringen um Gleichberechtigung als leistungsfähiger Mensch unabhängig von dem was er oder sie sonst noch sind, ja wieder aushebeln würde.

Wie dem auch sei. Was man von dieser Metaebene des Theaters an seinem immer noch ersten Haus am (Sprachraum-)Platze bei der Uraufführung der jüngsten Stücke-Überschreibung von Simon Stone mitbekommt, bleibt in einem Rahmen, den man ohne weiteres akzeptieren kann. Auch wenn man den Furor des Kulturkampfes um Identitäten und die Assoziationsräume der deutschen Sprache eher mit Sorge als mit Begeisterung betrachtet. Im Cast von Stones „Komplizen“ ist die dunkelhäutige Darstellerin der Cleo, Stacyian Jackson, nicht auch noch die positive Lichtgestalt, sondern führt eher die Truppe der besonders Skrupellosen an. Und die ihren Akzent nicht verstellende Ungarin Annamária Láng ist zwar als Haushälterin Anita eine der menschlich gradlinigsten Charaktere, aber nicht gleich die Herrin des Hauses. Wobei man sich hier schon wieder fragen könnte, ob das nicht zu „adäquat“ besetzt ist. Es ist halt alles nicht so einfach. In diesem konkreten Fall geht Kusejs Bemühen um mehr Diversität auf der Bühne seines Hauses im Ganzen jedenfalls auf. Man denkt einen Moment darüber nach, verwirft aber jeden Quoten-Verdacht im Angesicht des überzeugenden Resultates wieder.

Kritiker, denen der oft auch radikal hinterfragende Umgang der Regisseure mit den Vorlagen im Theater (oder auf der Opernbühne) nicht gefällt, leisten sich gelegentlich die Empfehlung, wenn einem Vertreter dieser Spezies nicht passe, was er vorfinde, dann solle er sich doch selbst seine Stücke schreiben oder Opern komponieren.

Was das Theater betrifft, könnte man Simon Stone als den personifizierten Kompromiss zwischen Rühr-bloß-nichts-an und Mach-dir-dein-eigenes-Stück bezeichnen. Der 1984 in Basel geborene Stone ist als Theater-, Film und Opernregisseur, als Autor und Schauspieler ein weltläufiges Multitalent. Als Opernregisseur etwa war er im vergangen Sommer in Aix-en-Provence mit gleich zwei großen Produktion zu erleben. Hielt man seinen überbebildert banalisierenden „Tristan“ auch für gescheitert, so konnte man über die Uraufführungsinszenierung von Kaija Saariahos Amoklauf-Oper „Innocence“ nur jubeln. Der Reiz des Neuen liegt ihm offensichtlich auch in der Oper. Auf der Schauspielbühne hat er mit seinen Überschreibungen sowas wie ein Alleinstellungsmerkmal. Exemplarisch gelungen sind seine „Drei Schwestern“ in Basel oder „Hotel Strindberg“ in Wien.

Fürs Burgtheater hat er sich jetzt Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ (1905) und seine 1906 folgenden „Feinde“ (in der deutschen Übersetzung von Martin Thomas Pesl) vorgenommen. In dem einen Stück leugnet ein wütender Mob die Cholera, im anderen platzt den Arbeitern der klassenkämpferische Kragen. Wie die Bilder aus dem zaristischen Russland und dem Wien von heute sich doch gleichen …

Stone feuert nun nicht etwa wie Franks Castorf so lange aus allen Rohren mit Fremdtexten auf die Vorlagen ein, bis es zu einem echten Castorf-Blockbuster wird, sondern er überschreibt die Vorlagen tatsächlich von heute aus. Spiegelt also den klassenkämpferischen Impetus bei Gorki in die Auseinandersetzungen um Übernahmen und drohenden Arbeitsplatzverluste von heute. Er macht aus der Cholera als Bedrohung über allen Corona. Wenn es dann politische Parteinahme gibt (wie von Falk Rockstroh als Vorarbeiter Jürgen), dann wirkt das eben nicht aufgesetzt oder durch die Patina der Geschichte überdeckt.

Stone nennt seine beiden Gorki-Überschreibungen zu einem Vierstundenabend „Komplizen“ (sie hätte auch anders heißen können).

Die Drehbühne hat Bob Cousins mit Glaspavillons zugebaut. Eine Unternehmervilla als ein Glashaus in dem mit Worten geworfen wird. Mit vielen Worte. In ziemlichem Tempo rausgehauen. Was bei der Besetzung schon unabhängig vom Text allerdings meist ein Genuss ist.

Man sieht hinter die Fassade und den Männern und Frauen beim Leben zu. Oder bei ihrer Illusion davon. Und bei ihrem tatsächlichen Scheitern. Am Ende des ersten Teils bewerfen die Arbeiter der Firma, die hier Prokosch heißt, die Scheiben mit Farbbeuteln. Im zweiten Teil wollen sich die Bewohner schützen, indem sie die Scheiben mit Zeitungspapier verkleben. Das hilft weder den einen noch den anderen aus ihrer jeweiligen übergeordneten Misere.

Was hier mit wachsendem Tempo aufeinander zuläuft sind die privaten Katastrophen der Unternehmerfamilie und ihrer engeren Umgebung und der Crash der auseinander fallenden Gesellschaft.

Die vollverglaste bürgerliche Bleibe gehört (vorerst) dem Unternehmersohn und in sein Wissenschaftlerdasein als Chemiker geflüchteten Paul (Michael Maertens) und Schauspielerin Tanya (Lilith Häßler), die ihre Ehekrise zelebrieren. An ihr ist der fotografierende Freund des Hauses Dietmar (Roland Koch) interessiert. Hinter ihm ist die Melanie (grandios überspannt Birgit Minichmayr) her („Hab ich erwähnt, dass ich eine von Österreichs besten Scheidungsanwältinnen bin?“). Dass das Ganze mit einem Mordskater (Kabinettstück für Maertens) nach einem Saufgelage beginnt, gibt die Liebe zum Alkohol für den Rest des Abends vor.

Die flott geschnittene Episodenfolge eskaliert als der skrupellose Geschäftsführer Raschid (Bardo Böhlefeld) die Firma schließen will, vor den Fabriktoren ins Koma geprügelt wird und noch vom Rollstuhl aus verkündet, dass er (angetrieben von seiner Frau Cleo) den Firmen-Patriarchen (Peter Simonischek) durch heimliche Übernahme der Aktienmehrheit quasi enteignet, auf jeden Fall aber entmachtet hat.

Demonstrativ auf der Seite des gesunden Menschenverstandes und des Mitgefühls ist die ungarische Haushälterin Anita (Annamária Láng). Dazu kommt noch die junge Putzfrau (Safira Robens), die Medizin studieren will.

Der Hausmeister Igor (Rainer Galke) wird vom cholerischen Sexisten zum Leidensmann, als seine Frau an Corona stirbt. Auch der Therapeut Botho (Felix Rech) überlebt sein Eindringen in das verkorkste Leben der anderen nicht und begeht Selbstmord. Seine zurückgelassene Braut und langjährige Patientin Lisa (Mavie Hörbiger) steigt aus diesem Leben in den Wahnsinn aus. Dass die Akteure gelegentlich selbst erwähnen, dass sie auch ein Klischee sind, gehört zum witzig ironischen Arsenal bei Stone. Am Ende zieht der abservierte Partriarch das Fazit: „Es ist aus. Und wir sind selber schuld.“ Tja.

Simon Stones setzt mit seinem faszinierenden Gesellschaftsporträt gekonnt auf das Tschechow-Charisma und gewinnt. Weil er der Gegenwart ziemlich dicht auf die Pelle rückt und ein großartiges Ensemble zum Leuchten bringt.