24. Jahrgang | Nummer 22 | 25. Oktober 2021

Die USA am Scheideweg

von Mario Keßler

Menschenrechte, Freiheit und Demokratie – unter dieser Trias brachen die USA mehr Kriege vom Zaun als jede andere Macht in der modernen Geschichte. Dies ist die These des neuen Buches von Bernd Greiner, und sie findet ihre Entsprechung in Karl Drechslers Werk über das letzte Jahr der Präsidentschaft Donald Trumps. Die beiden Amerika-Historiker, zwei der führenden Fachvertreter auch über Deutschland hinaus, suchen nach längerfristigen Ursachen wie direkten Anlässen, die zu Entwicklungen führten, deren Scheitern beim überstürzten Abzug der westlichen Armeen aus Kabul zu beobachten war.

Nur ein Jahr nach seiner fulminanten Biographie Henry Kissingers, der heute vor allem als Drahtzieher des Putsches gegen Salvador Allende in Chile in Erinnerung ist, zeichnet Greiner, Jahrgang 1952 und ehemaliger Leiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg, ein Bild der USA-Politik, das von Verschwörungstheorien, Bedrohungsphantasien, Putschversuchen auch gegen demokratisch gewählte Regierungen, Militärinterventionen und Wirtschaftsblockaden bestimmt wird. Als Rechtfertigung diente den einander folgenden Regierungen, mit teilweiser Ausnahme unter Präsident Obama, die Unterstellung, dass andernfalls die Welt in die Hände finsterer Mächte fiele, seien dies Kommunisten, Islamisten oder sonstige Arten von Terroristen. Der Zweck rechtfertige die Mittel; Gewaltpolitik sei eben nur mit Gewalt – oft präventiver Gewalt – zu verhindern. Eine Hegemonialmacht müsse das Handwerk der Einschüchterung, Nötigung und Erpressung beherrschen. Bei Strafe des Verlustes ihrer Weltmachtrolle dürften die USA eine Maxime nie aus den Augen verlieren: „Macht beruht auf Angst, eine Führungsmacht, deren Gewaltbereitschaft in Frage steht, verdammt sich selbst zur Ohnmacht.“

Die direkt oder indirekt von den USA initiierte Beseitigung bürgerlich-demokratischer Regierungen im Iran und in Guatemala 1953 und 1954 sowie in Chile 1970 war nicht nur von der Furcht bestimmt, solche Regierungen könnten „dem Kommunismus“ in die Hände arbeiten. Es ging auch und vielmehr darum, den leisesten Versuch im Keim zu ersticken, sich aus dem Bannkreis der imperialistischen Führungsmacht zu befreien. Die sowjetischen Führungen waren sich (trotz Chruschtschows Kraftmeierei) des uneinholbaren qualitativen Rückstandes in der Militärtechnik bewusst und versuchten dies mit quantitativer Hochrüstung auszugleichen. Greiner zeigt, dass dies nie gelang, dass aber die USA im Rüstungswettlauf stets der aktivere Teil blieben und die Sowjetunion meist reagierte – in den 1980er Jahren oft nur noch hilflos. Dies verstärkte auch in Moskau, ungeachtet alle Entspannungs-Rhetorik, die Bedrohungsängste in einem Maße, dass sie fast zum Selbstläufer wurden: 1962 in der Kuba-Krise und 1983, als nur das besonnene Handeln von Stanislaw Petrow, eines diensthabenden Offiziers im sowjetischen Frühwarnsystem, einen Atomkrieg verhinderte. Am 26. September jenes Jahres hatte dieses computergesteuerte System fälschlicher Weise den Angriff von US-Atomraketen gemeldet. Petrow erkannte die Fehlermeldung und verhinderte den Alarmstart sowjetischer Raketen.

Ohne die USA als Ordnungsmacht würde die Welt im Chaos versinken oder Diktatoren in die Hände fallen – Bernd Greiner entlarvt diese seit Jahrzehnten mit Vehemenz vorgetragene Behauptung als reine Propaganda. Vielleicht hätte er mehr über die Gründe schreiben sollen, warum diese Parole dennoch bei Millionen von Menschen inner- und außerhalb der USA verfing, was nicht nur mit den Schrecken des Stalinismus zu tun hatte. Auch heute unterstützt eine Mehrheit der Amerikaner Internierungs- und Folterlager von Guantánamo bis Abu Ghuraib.

Greiner listet auch die Warnungen militärischer und ziviler Experten vor Kriegsabenteuern auf. Doch konnten sich besonnene Stimmen nie gegen den militärisch-industriellen Komplex und das dazu gehörende Geheimdienst-Konglomerat durchsetzen. Kriegslüsterne Karrieristen hatten in Washington stets bessere Aufstiegschancen als hellsichtige Warner.

Den vorläufigen Tiefpunkt solcher Entwicklungen sieht Karl Drechsler mit Donald Trumps Präsidentschaft erreicht. Der 89-jährige Autor, in der DDR Direktor des Akademie-Instituts für Allgemeine Geschichte, schilderte und analysierte die Geschehnisse während ihres Verlaufes und verarbeitete eine enorme Fülle an Materialien aus den Medien und dem Internet. Er teilt im Wesentlichen die Befunde Greiners, konzentriert sich aber mehr auf die amerikanische Innenpolitik. Seinen Aufstieg habe Trump, neben der Unterschätzung durch seine Gegner, der geschickten Erzeugung einer Atmosphäre von Populismus, Protektionismus und Isolationismus verdankt. Er habe sich als cleverer Wahlkämpfer zum Sprecher der angeblich schweigenden Mehrheit gegen eine abgehobene Elite präsentiert. Ein politisches Gesamtkonzept jenseits des propagierten „America first“ habe er jedoch nicht zu entwickeln verstanden.

Im letzten Jahr von Trumps Präsidentschaft machten diesem zwei unerwartete Ereignisse einen Strich durch die Rechnung einer sicher geglaubten zweiten Präsidentschaft: Die Ermordung eines Afroamerikaners durch die Polizei in Minneapolis am 25. Mai 2020 und die Corona-Pandemie, während derer Trump seinen Egoismus wie sein Missmanagement allzu deutlich offenbarte. So geriet er ins Hintertreffen und verlor die Wahl am 14. Dezember 2020.

Doch war Trump keineswegs bereit, das Wahlergebnis zu akzeptieren. Begleitet von seiner pausenlosen Twitter-Kampagne klagten seine Anwälte über fünfzig Mal vergeblich, um vor Gericht den Ausgang der Wahl zu revidieren. Zugleich heizte Trump das politische Klima derart auf, dass ihm zumindest indirekt die Verantwortung für den versuchten Staatsstreich am 6. Januar 2021 zukommt. Drechslers Hoffnung, „dass Trump und diejenigen, die ihm dabei folgten, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden“, scheint sich aber nicht zu erfüllen. Hingegen ist seine Befürchtung, Trump werde „eine Art von Schattenpräsidentschaft neben Joe Biden errichten“, mindestens teilweise Realität geworden: Er und seine Anhänger haben die sich immer weiter ins Rechtsextreme entwickelnde Republikanische Partei vorerst weiter fest im Griff. So stehen die USA am Scheideweg: Lässt sich die bürgerliche Demokratie bewahren oder fällt das Land in die Hände von Populisten, gar von Faschisten?

Bernd Greiner: Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben, Verlag C. H. Beck, München 2021, 288 Seiten, 16,95 Euro.

Karl Drechsler: Ein bizarres Jahr. Der Kampf um die USA. Von der Eröffnung des Impeachment-Verfahrens am 18. Dezember 2019 bis zur Präsidentschaftswahl am 3. November 2020, trafo Literaturverlag, Berlin 2021, 218 Seiten, 13,20 Euro.