24. Jahrgang | Nummer 22 | 25. Oktober 2021

Armin Laschet hat die Wahl verloren – er allein?

von Stephan Wohanka

Ausnahmsweise soll BILD das erste Wort haben: „Am Vortag der Wahl war Kanzlerin Angela Merkel (67, CDU) noch ‚ein Glücksfall der Geschichte‘, so Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet (60, CDU). Eine Woche später steht auch sie mit am Abrechnungs-Pranger der eigenen Parteifreunde. Und trotzdem schweigt die Noch-Kanzlerin eisern zur Wahlniederlage ihrer Partei“. Ja – warum wohl? Wenn die Frau tatsächlich so klug ist, wie diejenigen behaupten, die sie näher kennen, dann weiß sie, dass Laschet zwar der unmittelbare Wahlverlierer ist, sie jedoch wohl zurecht mit in der Kritik steht, die in der CDU seit dem 26. September nicht mehr abebbt. Und sich zu erklären, um so mitzuschaufeln am eigenen politischen Grab – das wäre wohl auch in ihrem Falle zu viel verlangt.

Die heute noch zu hörenden Elogen auf Angela Merkel werden bald verklungen sein. Dann wird es – davon bin ich überzeugt – zu ihre politischer Grablege kommen. Wenn allerdings der frühere EU-Kommissar Günther Oettinger – ebenfalls CDU und dem legendären Andenpakt weiland junger Unionsplatzhirsche zugehörig, von dessen Mitgliedern etliche dank Merkel karrieremäßig nicht so zu reüssieren vermochten, wie sich das vor Merkel vorgenommen hatten, – wie viele andere kritisiert, dass „den Wählern nicht klar gewesen (sei), welche Gründe es gebe, die Union zu wählen. Der Wahlkampf sei beliebig gewesen, ein ‚klares Profil‘ habe gefehlt“, dann sagt er nichts Falsches; nur etwas völlig Unzureichendes.

Im März 2009 war Merkel gefragt worden: „Brauchen Sie die Konservativen noch“? Und hatte geantwortet, sie wisse nicht, „ob es Menschen gibt, die nur konservativ sind. Ich bin manchmal auch konservativ.“ Worauf die gastgebende Moderatorin Anne Will prompt reagierte: „Das ist ja ein wunderbarer Satz: Ich bin auch mal konservativ.“ Merkels dazu: „Ja, mal konservativ, mal liberal, mal christlich-sozial, und das macht die CDU aus.“ Kritiker in der Union unterstellten ihr daraufhin bereits damals politische Beliebigkeit. Der konservative Flügel der Union werde weder inhaltlich noch personell bedient und durch die Kanzlerin verunsichert, so CDU-Stimmen. Man wisse nicht, ob Merkel „noch in der CDU beheimatet“ sei.

Solange Merkel Kanzlerin war und bei den Wahlen immer wieder antrat, konnte ihre Methode – das Abwerben von Wähler der SPD und Grünen in den urbanen Milieus – funktionieren. Diese Strategie bescherte der Union zwar Verluste auf der konservativen, der rechten Seite, diese wurden aber dadurch (über)kompensiert, dass über längere Zeit die SPD mehr Federn ließ als die CDU. Mit ihrem unvergessenen Aplomb „Sie kennen mich“ verdeckte sie vor dem breiten Publikum die zunehmenden politischen Defizite, die nicht nur ihre Kritiker in der CDU wahrnahmen. Und das wörtlich: Im September 2013, gut zweieinhalb Wochen vor der damaligen Bundestagswahl, war ein Riesenposter am Berliner Hauptbahnhof – 2378 Quadratmeter groß, zusammengesetzt aus mehr als 2000 Fotografien – zu sehen; einziges Motiv – die Merkel-Raute,, das Markenzeichen der Kanzlerin. Plus CDU-Logo, verschämt rechts oben am Rand.

Doch wer war und ist Merkel wirklich? Was sind ihre echten Überzeugungen, was ist Opportunismus? Die Kanzlerin bleibt bis heute vielen Beobachtern rätselhaft.

Als Regierungschefin hatte Merkel es paradoxerweise leicht. Zwar war sie mit vielfältigen akuten Krisen – der Finanz- und Flüchtlingskrise und denen ständigen Krankheitssymptomen in der EU – konfrontiert; irgendetwas musste sie immer abräumen. „Sie hat das Land als Lotsin erfolgreich durch die Untiefen der Zeit gesteuert. Das allein ist eine große Leistung, mit der sie eine Ära geprägt hat“, meint der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Dass die Union sich heute noch als Volkspartei fühlen dürfe, habe viel mit ihr zu tun, so Kretschmann weiter.

Damit allerdings irrt der Lobhudler! Denn die „Lotsin“ vermied „Schweres“ – nämlich Auseinandersetzungen um politisch Weiterführendes, umging die inhaltliche, zu Kontroversen führende Kärrnerarbeit und flüchtete sich häufig in demonstrative Geschäftigkeit; namentlich auf internationalem Parkett. Um der CDU den Charakter einer Volkspartei zu bewahren, hätte Merkel sie nicht zu einem Kanzlerinnen-Wahlverein verkommen lassen dürfen, sondern hätte politisch Gehaltvolles konservativer Denkungsart beisteuern (lassen) müssen, das auch über ihre Zeit hinaus Bestand hätte haben können. Im Parteienjargon oft als „Programmatik“ bezeichnet. Intellektuelle Schwergewichte wie Kurt Biedenkopf oder Heiner Geißler, die Helmut Kohl seinerzeit in der CDU nach vorn holte und von deren kontroversen Ideen die Partei lange zehrte, suchte und sucht man heute dort vergebens.

Das Ende der CDU als Volkspartei war so spätestens bei der Bundestagswahl 2017 eingeläutet, bei der die Union zwar noch knappe 33 Prozent der Stimmen holte, um dann bei allen Landtagswahlen seither nur noch Stimmen zu verlieren. Sachsen-Anhalt in diesem Jahr war da nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Mit Merkels Abgang wurde das sich lange aufbauende Defizit nun für jedermann überdeutlich, desgleichen die prekäre Arithmetik Merkelscher Strategie dahinter. Laschet konnte die inhaltlich-geistig sowie auch moralisch verschlissene Union – man denke nur an den Amthor-Skandal und die schamlose Bereicherung bei der Maskenbeschaffung, auch Laschets Sohn Joe war involviert – nicht zu Höhenflügen führen. Sein Wahlkampf illustrierte die völlige Beliebigkeit, die inzwischen „Markenkern“ der CDU geworden war; eigene Fehler kamen hinzu. Laschet erweckte darüber hinaus den Eindruck, als sei die Zeit nach der Jahrtausendwende stehen geblieben. Das Fazit: Je verschwommener und angepasster die Union unterwegs war, desto mehr ging es mit ihr bergab!

Die Krise der Partei reicht folglich viel tiefer als Laschets Fall. Sie hat vor allem mit der Noch-Kanzlerin zu tun, die nicht nur ihre personelle – man erinnere sich nur an die unglücklich agierende Annegret Kramp-Karrenbauer, ihre erste Nachfolgerin im Parteivorsitz –, sondern vor allen ihre inhaltliche Nachfolge verstolperte. Richtungskämpfe und anhaltender Streit mit der CSU waren und sind die Quittung für die inhaltliche Leere. So verhedderte sich die CDU immer tiefer im Richtungsstreit zwischen konservativen Kräften und solchen, die die Partei noch weiter rechts positionieren wollen. Dazu passte wiederum Laschets Eiertanz um die Kandidatur des früheren Bundesverfassungsschutzchefs und CDU-Rechtsaußens Hans-Georg Maaßen in einem Thüringer Wahlbezirk. Und wenn jetzt die bisher mehr oder weniger unter der Decke gehaltenen Machtkonflikte in der CDU richtig aufbrächen, dann könnte das die Partei auch zerreißen.

In „Merkel. Eine kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft“, in erweiterter und aktualisierter Ausgabe im Juli 2021 neu erschienen, fasste der Historiker Dominik Geppert zusammen: Merkel hinterlasse „kein geordnetes Haus, sondern eine ausgebrannte Regierung und eine profillose Partei ohne Alleinstellungsmerkmale und inneren Kompass“. Dieses Fazit mag man, wie Claudio Casula, für „so niederschmetternd“ halten, „dass einem unwillkürlich das Schmähwort von der ‚Abrissbirne aus der Uckermark‘ einfällt“, doch der analytisch interessierte Beobachter fraqt da schon eher: Wo waren in jenen 16 Jahren all die andern CDU-Größen? Was ist deren Anteil an der Misere? Warum wurde Merkel immer wieder als Parteivorsitzende gewählt? Nicht zu vergessen: Alle „Kurskorrekturen“ Merkels wurden immer von der überwältigenden Mehrheit der Funktionäre mitgetragen.

Nun hat die Partei sehr wahrscheinlich vier Jahre Zeit, einen „Kompass“ zu suchen und darüber nachzudenken, wie ein zeitgemäßer Konservatismus aussehen könnte. Um abzuwenden, was nicht nur dessen Parteigänger fürchten (müssen) – den Zerfall der konservativ-bürgerlichen Mitte; eine Gefahr nicht nur für die Union, sondern für das gesamte politische System. Und damit für das Land. Die CDU sollte – um Peter Sloterdijk zu zitieren – ihre „politischen Primärfarben“ wieder zum Strahlen bringen, die Demoskopie gestützte Beliebigkeit wieder gegen politische Unterscheidbarkeit eintauschen. Darüber hinaus nur so viel: Durch die Union wehte in jüngerer Zeit immer häufiger eine Art mephistophelischer Geist, „der stets verneint“; die Partei wusste vor allem, was sie nicht wollte, wogegen sie war und ist. Doch Verneinung – nicht weit entfernt von schlechter Laune und Ressentiments – marginalisiert sich auf Dauer selbst. Neubegründung politischer Werte bedarf der Bejahung, eines gewissen Optimismus, der Zuversicht, der Zukunftsfähigkeit.

Laschet berief zwar ein „Zukunftsteam“ und wollte noch am Wahlabend eine „Zukunftsregierung“ unter seiner Führung installieren – das waren jedoch nur zwei weitere hohle Worthülsen mehr zu den vielen anderen aus seinem Wahlkampf. Man darf gespannt sein, ob da nun noch etwas kommt oder ob die CDU Merz, Spahn oder Röttgen zu ihrem nächsten Vorsitzenden krönt und damit den vielleicht letzten Nagel zu ihrem Sarg einschlägt.