Ich war ein junger Amtsleiter in Angermünde und etwas ratlos, als ich 1981 einen Brief an die „Direktion der Deutschen Reichspost“ erhielt: Im „Einfinger-Suchsystem“ schrieb mir ein Professor, schlimmer noch: der „Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität Berlin“! War das eine „Eingabe“, die für mich verwaltungsrechtliche Folgen auslöste? Wer war der fremde große Mann?
Es sei festgestellt, dass ich bei ihm nie Student war, er mir völlig unbekannt gewesen ist. Sein Anlass war, dass ihn im August ein Brief aus Angermünde ungehindert erreichte, obwohl der mit einer Nachkriegsbriefmarke der „SBZ“ völlig unvorschriftsmäßig frankiert war. Das hatte ihn offensichtlich „gejuckt“, seine humorige Ader über mich als unbedarften Amtsleiter in der Uckermark freundlich zu ergießen!
In Mischung aus „Pflicht und Kür“ wagte ich, ihm korrekt, sehr respektvoll aber auch leicht ironisch fristgemäß zu antworten. Damit hatte ich wohl seinen Nerv angenehm berührt und meine juristische Aufgabe zugleich erfüllt. Er hatte wohl gespürt, dass eine Korrespondenz zwischen uns beiden so Ungleichen eine Abwechslung zum strengen „Dienstgeschäft“ sein könnte. Also kurzum, der Humor pendelte zwischen Berlin und Angermünde recht häufig. Scherzhafter Weise piekte er mich zum Beispiel einmal mit obiger umfangreicher „Titulatur“ an, weil ich auf meinem Dienstkopfbogen stets vorschriftsmäßig mit „Oberrat Tittler“ unterschrieb.
Das Ganze führte schließlich sogar auf seine Initiative hin zu einem mehrstündigen persönlichen Treffen, das mir unvergessen bleibt. Er hatte mir viele Details seiner so ungewöhnlichen Tätigkeit geschildert. Davon soll heute die Rede sein, denn diese folgende Geschichte aus seinem Munde war mir eine besondere:
Mein Professor bekam einen anonymen Brief mit interessantem Inhalt: Ein Aktfoto einer Studentin („Das war sehr gut getroffen“, meinte er) wurde von einem Text begleitet, in dem der Verfasser dem Professor riet, diese namentlich genannte Studentin zu exmatrikulieren, weil sie ein unmoralisches Verhalten trieb! Das hatte „meinen Professor“ geradezu animiert, aktiv zu werden. Er bestellte die Studentin zu sich, zeigte der Errötenden ihr Foto und fragte, wer denn dieses Foto von ihr bekommen haben könnte. Für unseren jetzt erstaunten Otto Prokop nannte sie ihm gleich vier Namen, alles Studenten!
Und jetzt setzte der Professor sein Wissen ein, das schon vor 40 Jahren zum Erfolg führte: Er ließ sich die vier „Verdächtigen“ kommen, bat sie nur, auf ein Löschblatt zu spucken und ließ sie erst einmal laufen. Sein Gedanke war: Einen Brief verklebt man, indem man ihn beleckt. Er hatte nun vier Speichelproben, die er mit den hoffentlich beleckten Kuverts verglich. Und siehe da: Der Täter ward gefunden! Nun erfolgte durch den Institutsdirektor der gezielte „Zugriff“!
Der Student war vor so viel Autorität und Fachwissen sofort geständig. Er bekam aber eine große Chance, heute würde man sagen zu einer „Win-win-Situation“: Dem Prokopschen Institut fehlte nämlich dringend ein Heizer. Wenn der Student für ein Jahr diese wesentliche Lücke unverzüglich schließen würde, dann könnte er sein Studium danach fortsetzen. Man wurde sich schnell einig, und so fand die Geschichte ihr niveauvolles und gutes Ende!
Am 12. Oktober 1996, als zu Ehren seines 75. Geburtstages ein großes „Wissenschaftliches Symposium der Rechtsmedizin“ stattfand, sahen wir uns nach langer Zeit ein zweites Mal. Vor vielen internationalen Gratulanten aus aller Welt hielt er seine Dankesrede in Latein, die sie alle – egal ob aus Prag oder Japan kommend – gleichermaßen verstanden. Dass seine Rede sehr humorvoll sein musste, konnten meine Frau und ich nur aus dem häufigen Gelächter erahnen, weil wir wohl die einzigen Gäste waren, die davon nichts verstanden. Als ich dann am Ende der Gratulanten stehend auf ihn zuging, da rief er doch wirklich spontan: „Ach, da ist ja der Postdirektor aus Angermünde!“ Was für ein Erinnerungsvermögen hatte „mein Professor“ nach 15 Jahren unseres Wiedersehens! Und ich war doch nun wirklich der Unscheinbarste unter seinen Gästen!
Schlagwörter: Hans-Ulrich Tittler, Otto Prokop