24. Jahrgang | Nummer 19 | 13. September 2021

Wahlperspektiven

von Waldemar Landsberger

Manche Wahlforscher und Umfrage-Interpreten erklären, der diesjährige Bundestagswahlkampf sei langweilig. Dem ist, genauer betrachtet, durchaus nicht so. Zunächst konzedieren verschiedene internationale Kommentatoren Angela Merkel, dass sie hier ihre fünfte Bundestagswahl hätte gewinnen können. Wahrscheinlich wäre das so, aber dann würde man sie wahrscheinlich in vier Jahren davonjagen, wie 1998 Helmut Kohl aus dem Amt vertrieben wurde. Das erspart sie sich.

Hinzu kommt, die Grünen und die Christdemokraten haben sich für den jeweils schwächeren Kandidaten entschieden. Das ist auch interessant zu beobachten. Aber auf der Zielgeraden kann man die Pferde nicht mehr wechseln. So haben die Christdemokraten beschlossen, die von Motten inzwischen zerfressenen, stinkenden „roten Socken“ wieder hervorzuholen, mit denen der gelernte Pfarrer und einstige CDU-Generalsekretär Peter Hintze 1994 Wahlkampf für Helmut Kohl zu machen versucht hatte. Das „Gespenst des Kommunismus“ konnte vier Jahre nach dem Ende der DDR vielleicht noch ein paar besonders ängstliche Spießbürger in West und Ost erschrecken. Eine Generation weiter und angesichts der real existierenden Linkspartei dürfte sich der Schrecken in engen Grenzen halten. Auch wenn Frau Will im Fernsehen gegenüber Janine Wissler – jetzt eine der beiden Parteivorsitzenden und eine der zwei Spitzenkandidaten der Linken zur Bundestagswahl – aus irgendwelchen früheren trotzkistischen Bekenntnispapieren zitiert, die selbst innerhalb der Partei Die Linke randständig sind, wird das Gespenst nicht größer.

Nachdem es im Frühjahr den großen Hype um die frisch wirkende und unverbrauchte Annalena Baerbock von den Grünen gab – da hatte sie noch nicht mit Plagiatsproblemen und ihren kleinteiligen Hochstapeleien zu tun – und sich Armin Laschet mittels Intrigen in die CDU-Kanzlerkandidatur geschlichen hatte, schien es auf einen Konkurrenzkampf grün-schwarz hinauszulaufen, der Merkel-Bonus hatte noch Nachhall. Die SPD dagegen stellte den stärksten Kandidaten auf, den sie finden konnte. Als Olaf Scholz mitteilte, er sei auch noch da, führte dies angesichts der überkommenen Lage der SPD meist nur zu einem mitleidigen Lächeln. Die CDU setzte auf eine Kampagne der „politischen Erfahrung“. Gegenüber Scholz’ Amtsbiographie sieht Laschet aber recht blass aus. Anfang September liegt die SPD in nahezu allen Umfragen bei 25–26 Prozent, die CDU/CSU bei 20–22 Prozent, die Grünen bei 15–17 Prozent. Da es sich hier um seit Wochen anhaltende Trends handelt, ist kaum zu erwarten, dass sich das nochmals umkehrt.

Die FDP kommt auf 11–13 Prozent. Ein Teil der bürgerlichen Presse hatte zwischenzeitlich gemutmaßt, es werde auf jeden Fall eine Dreier-Koalition geben müssen, und das ginge nur mit der FDP. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Christian Lindner, der 2017 die Koalitionsverhandlungen zur Bundesregierung fluchtartig verlassen hatte, weil er nicht regieren wollte, hat jetzt die Losung herausgegeben, unbedingt regieren zu wollen. Dazu erklärte Lindner, er wolle unbedingt Finanzminister werden, auf das Außenamt könne die FDP getrost verzichten. Nach Heiko Maas ist das gewiss kein besonders erstrebenswertes Ehrenamt, anders als zu Zeiten von Willy Brandt oder Hans-Dietrich Genscher. Gleichwohl ist das zunächst eine innerparteiliche Mitteilung: Alexander Graf Lambsdorff hatte sich vor ein paar Monaten mit einem voluminösen Werk als außenpolitischer Aspirant ausdrücklich selbst empfohlen, und Lindner hat ihm nun mitgeteilt, er solle sich erstmal hinten anstellen.

Hinzu kommt, dass Lindner wieder seinen arroganten Ton pflegt, dessen er sich nach dem politischen Fiasko von 2017 zeitweise enthalten hatte. Das macht ihn für sensible Wählerinnen und Wähler nicht sympathischer. Nach den Umfragedaten gibt es durchaus verschiedene Mehrheitsvarianten ohne die FDP. Zunächst würde wahrscheinlich auch eine Koalition aus SPD und CDU/CSU wieder möglich, nur jetzt mit einem SPD-Kanzler. CDU, FDP und Grüne ginge, ebenso die „Ampel“ aus SPD, Grünen und FDP. In beiden Fällen entscheidet nicht allein die FDP, wer Kanzler wird, sondern eher noch die Grünen-Partei. Rein rechnerisch ginge inzwischen, wenngleich knapp, auch wieder rot-grün-rot. Das ist offenbar der Grund, weshalb das bürgerliche Lager Scholz mittels der „roten Socken“ drängen will, noch vor der Wahl dieser Variante öffentlich eine Absage zu erteilen. Die SPD wäre aber gut beraten, genau dies nicht zu tun und sich alle Optionen für die Zeit nach der Wahl offen zu halten. Nur dann ist sie nicht von der FDP abhängig oder von der CDU erpressbar.

Scholz und die SPD-Parteivorsitzenden haben einerseits die innen- und sozialpolitischen Schnittmengen mit der Linkspartei bestätigt, andererseits jedoch die außenpolitischen Unterschiede betont. Das aber ist nichts Neues, sondern nur die Wiederholung der drei Essentials, die Egon Bahr schon vor 25 Jahren betont hat: Wer in Deutschland auf Bundesebene mitregieren will, muss ein positives Verhältnis zur Europäischen Union und zu den USA haben, ferner die NATO-Bindung akzeptieren.

Entscheidend ist aber nicht, wie auch im Verhältnis zwischen SPD und CDU oder zwischen SPD und Grünen, was im Parteiprogramm oder im Wahlprogramm steht, sondern was am Ende im Koalitionsvertrag für vier Jahre Regierungshandeln vereinbart wird. Zunächst gilt: Wenn 70 Prozent der Deutschen stets gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan waren, aber 70 Prozent für den Verbleib Deutschlands in der NATO sind, kann eine Sieben-Prozent-Partei einen NATO-Austritt nicht dekretieren. Aber es könnte vereinbart werden, die Bundeswehr aus allen Auslandseinsätzen zurückzurufen, zumal nach dem Desaster in Afghanistan, weitere nicht zu beschließen und Waffenexporte in Nicht-NATO-Staaten unverzüglich einzustellen. Zugleich könnte man fordern, dass die USA alle Kernwaffen aus Deutschland abziehen. Das hatte Guido Westerwelle, damals FDP-Vorsitzender, Vizekanzler und Außenminister, nach der Bundestagswahl 2009 schon mal in einen Koalitionsvertrag mit Angela Merkel reinverhandelt, auch wenn sie das später stillschweigend suspendierte.

In einem nächsten Schritt könnte der Umbau der Bundeswehr zu einer „Armee im Einsatz“ rückgängig gemacht werden. Es würden zuerst die Kapazitäten – logistisch, die Waffensysteme, die Transportmittel – zurückgebaut, die den Planungen weltweiter Einsätze folgen, und die Bundeswehr hätte nur noch den Auftrag, die Territorialverteidigung zu sichern. In diesem Sinne könnte auch der Militäretat im Bundeshaushalt zu sozialen Zwecken wieder reduziert werden. Danach könnte die Forderung gestellt werden, dass Deutschland aus der Militärorganisation der NATO austritt, ohne die NATO als politische Organisation zu verlassen; diesen Status hatte Frankreich seit Charles de Gaulle während vieler Jahre. Das könnte aber auch eine Forderung für einen Koalitionsvertrag 2025 sein.

In diesem Sinne könnte Die Linke Teil einer Bundesregierung sein und zuverlässig mitregieren, ohne ihre eigenen programmatischen Positionen aufzugeben. Die würden erst dann zur Staatspolitik werden, wenn es dafür eine reale Mehrheit in der Bevölkerung oder Wählerschaft gibt. Zuvor aber könnten die Gemeinsamkeiten in der Sozial-, Renten-, Wohnungs- und Gesundheitspolitik umgesetzt werden. Die Forderung nach einem „Canossa-Gang“ der Linken in Sachen Außenpolitik ist für das bürgerliche Lager recht eigentlich ein Hebel, um die innerpolitischen Schnittmengen mit SPD und Grünen unrealisierbar zu machen.