24. Jahrgang | Nummer 20 | 27. September 2021

Von Finderglück und Trennung ohne Schmerz

von Erhard Weinholz

Wie so vieles in der Welt hat auch meine Bibliothek ganz klein angefangen – irgendwann in den frühen Siebzigern, als ich im Studentenwohnheim lebte. Man hatte dort wenig Platz für Bücher, aber das machte nichts, denn man hatte auch kaum Geld dafür. Ein paar dicke Marx- und Lenin-Bände standen bei mir im Schrank, zum Teil von meinem Vater übernommen, dann Kasakewitschs „Das blaue Heft“ und Eckart Krumbholz‘ „Tassen im Schrank“, die ich beide heute noch besitze; an den Rest, wenn es ihn denn gegeben hat, kann ich mich nicht mehr erinnern.

Nichts erhalten hat sich hingegen von meinen Kinderbüchern. Ich hatte auch nur wenige, vielleicht zwei Dutzend, denn ich war eifriger Nutzer der Schulbücherei, die über Jahre hinweg von meiner Mutter betreut wurde, und dort, in einem Schrank im Pionierleiterzimmer, standen auch irgendwann, ohne dass ich ihr Fehlen bemerkt hätte, die Bücher aus meiner Kinderzeit. Erst jenseits der Vierzig bekam ich Sehnsucht nach ihnen, vor allem nach den Märchenbüchern, bei deren Lektüre ich gleich in der 1. Klasse etwas gelernt habe, was viele meines Alters nicht mehr können – nämlich Frakturschrift zu lesen. Manches habe ich wiederbeschafft, anderes bleibt unauffindbar, das Igelbuch etwa, aus dem ich noch einzelne Verse weiß, Im Wasser, das zur Erde rinnt, spielt Stachelchen, das Igelkind …, seinen Titel aber habe ich vergessen. Doch Kinderbücher über Igelfamilien, so erklärte mir einmal ein Antiquar, gibt es Dutzende und Aberdutzende.

Ende der Siebziger bekam ich endlich die erste eigene Wohnung, die ich akzeptabel fand. Im großen Zimmer stand, von den Vormietern hinterlassen, ein schöner alter Bücherschrank, Eiche schwarz gebeizt. Ich hatte damals die Marotte, sämtliche Reclam-Neuerscheinungen zu kaufen, hatte auch für viel Geld eine recht umfängliche „Bibliographie der Mark Brandenburg“ erworben, dennoch füllte er sich nur langsam. Kräftig gewachsen ist mein Buchbestand erst in den neunziger Jahren, als es allenthalben Arbeitslosen-Bücherstuben gab, wo man Bücher kostenlos erhielt: in Weißensee in der Langhansstraße, in der Nöldnerstraße schräg gegenüber vom S-Bahnhof Rummelsburg, in der Fennstraße in Schöneweide … Inzwischen sind sie fast alle verschwunden. Damals wandelte sich meine Bibliothek zum Antiquarium; meine Lieblinge wurden die DDR-Bücher aus den 50er und den 60er Jahren mit Original-Schutzumschlag. Der Umschlag widerspiegelt den Geist des Buches im graphischen Stil der Zeit: Dem stalinistischen Realismus verpflichtet waren die einen, betont sachlich die anderen, während die späteren im Grunde stillos blieben. Besonders die aus den fünfziger Jahren sind lichtempfindlich, die Glasfenster meines alten Bücherschranks habe ich mit Packpapier verhängt.

Viel Gedrucktes bietet sich auf Fenstersimsen oder auf dem Gehweg an, doch kaum etwas davon ist für mich von Reiz. Ich durchmustere es dennoch, Motto: Einmal muss es doch gelingen … Auch die Buchansammlungen in den Aufenthaltsräumen von Krankenhausstationen, Kureinrichtungen und dergleichen verdienen Beachtung. Zwischen den Werken von Utta Danella und Marie-Luise Fischer, den zerlesenen Heften aus Serien, die mal in Arzt-, mal in Adelskreisen spielen, und Klopapierdrucken aus der späten DDR finden sich manchmal wahre Perlen: In einer Reha-Klinik, wo ich bei einem Besuch den nur alle Stunde fahrenden Bus knapp verpasst hatte, entdeckte ich zwei bestens erhaltene Exemplare aus der Reihe „Romane der Weltliteratur“, unbenutzt, die Seiten klebten am Schnitt noch zusammen, einem lag die Rechnung des Volksbuchhandels aus dem Jahre 1952 bei.

So wuchs mein Buchbestand und wuchs und wuchs. Nicht weniges verdanke ich den Trödelläden, die vorwiegend oder nebenbei zu geringen Preisen Bücher anbieten. In Schöneweide fand ich in solch einem Laden, der vor allem hässliche Möbel führte, Konrad Merz‘ „Ein Mensch fällt aus Deutschland“, und zwar die Erstausgabe: Amsterdam (Querido) 1936. Bei einem in der Weitlingstraße Fontanes „Havelland“, den dritten Band der „Wanderungen durch die Mark“, in der 3. Auflage von 1889 – auch nicht schlecht. Bei noch einem anderen „Himmelsstürmer. Unser Flugzeug- und Raketenstartplatz von morgen“, ein Bastelbuch aus dem Jahre 1963, einer Zeit, als sich Zukunft noch mit viel Hoffnung verband. Bei zvab wird derzeit nur ein Exemplar angeboten, für 60 Euro. Auch ein gemeinnütziger Büchertrödel am Frankfurter Tor war eine ergiebige Quelle. Früher wurden allerdings erheblich mehr Bücher gespendet als heute, und was die Mitarbeiter, die von der Sache zumeist wenig verstanden, für unverkäuflich hielten, kam in die Altpapiercontainer hinter dem Hause. Man durfte sich dort aber nicht selbst bedienen – was im Übrigen zeigt, dass sie keine wahren Freunde des Buches waren –, so musste ich abends warten, bis der letzte fort war. Feuchtwangers „Erfolg“ aus dem Jahre 1930 mit dem Schutzumschlag von Georg Salter habe ich aus der blauen Tonne gerettet, den unscheinbaren Pappband der Huchel-Gedichte von 1948, seine einzige Buchveröffentlichung im Osten, und eine Heinrich-Seidel-Ausgabe aus den zwanziger Jahren, fünf hübsche kleine Bände in moosgrünem flexiblem Leineneinband. Vor allem durch „Leberecht Hühnchen“ war Seidel damals, zwanzig Jahre nach seinem Tode, noch bekannt, jetzt ist er vergessen.

Der Buchbestand wuchs also und wuchs; dass ich immer wieder Dutzende von Büchern ausrangierte, zu Bücherstuben brachte oder auf Fenstersimsen auslegte, half wenig. Einmal fand ich auf solch einem Sims tags darauf einen Zettel: Danke für die schönen Bücher – es war, so schien mir, eine Frauenhandschrift. Solchen Dank erhält man selten. Der alte Bücherschrank reichte zu jener Zeit längst nicht mehr, die Bücher füllten Regale, das Vertiko, zuletzt musste ich sie in Kartons verstauen. Da hatte ich die Idee, einen Teil davon dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach anzubieten. Und Marbach war tatsächlich interessiert, übernahm, als die Finanzierung gesichert war, gut vierhundert Bücher, transportierte sie auch selber ab. Sie seien alle überrascht gewesen von ihrem guten Zustand, schrieb mir die Bibliotheksleiterin später, das Auspacken habe etwas Weihnachtliches gehabt.

Aber auch von Enttäuschungen ist zu reden: So fand ich vor einigen Jahren in einer Ein-Euro-Kiste mehrere Nummern der Neuen Rundschau aus den Jahren 1933/34; in einer war Hesses Vorwort zum „Glasperlenspiel“ vorabgedruckt, seinem letzten Roman, an dem er dann noch fast ein Jahrzehnt gearbeitet hat, und mit Bleistift war säuberlich vermerkt, wo sich die Zeitschriften- und die Buchfassung unterschieden. Vielleicht von Hesse selbst? Das wäre ja eine echte Rarität. Noch einmal wandte ich mich an das Marbacher Archiv, wo auch ein großer Teil seines Nachlasses verwahrt wird: Es war nicht seine Handschrift. Was sollte ich noch anfangen mit dem Heft? Ich schenkte es ihnen – und sah es im Jahr darauf wieder, in der Hesse-Ausstellung im Literaturhaus in der Fasanenstraße.

Der Verkauf nach Marbach hatte viel Platz geschaffen. Aber was ein echter Sammler ist, der sammelt weiter. Zum Glück halten sich Zu- und Abgänge seit längerem schon die Waage; bei fast allem, das ich finde oder billig kaufe, sage ich mir nach einiger Zeit: Wozu? Nur Weniges gebe ich nicht wieder fort. Etwa die beiden wohlerhaltenen echten Malik-Bücher, keine Reprints also, die ich in der Grünberger Straße vor einem Altbücherladen, den es jetzt schon eine Weile nicht mehr gibt, in einer Kiste mit der Aufschrift Zum Mitnehmen liegen sah. Ich schimpfe ja oft auf die Dummheit meiner Mitmenschen. Aber mitunter profitiere ich auch davon.