Grit Lemke, 1965 in Spremberg geboren, in Hoyerswerda (sorbisch Wojerecy) aufgewachsen, Dokumentarfilmerin, Autorin, Kuratorin und wichtige Stimme in der Lausitz, wenn es um die Präsentation und Förderung sorbischen Filmschaffens geht, hat am 19. September in der Kulturfabrik Hoyerswerda ihr Buch „Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror“ vorgestellt. Dass der große Saal der Kufa, wie in der Stadt mit der Vorliebe für Abkürzungen die Kulturfabrik nur genannt wird, bis zum letzten Platz besetzt sein wird, damit war zu rechnen. Dass zwei Lesungen an einem Tag notwendig werden, vielleicht auch noch. Dass Grit Lemke mit ihrem Buch fast wie ein Popstar gefeiert wird, wie es sich Volksvertreter vor allem in Wahlkampfzeiten wünschen würden, war für die Autorin dann wahrscheinlich doch eine Überraschung. Eine weitere Überraschung war, gestand die Autorin, dass sie in den zahlreichen Interviews gleich kurz nach Erscheinen des Buches als die Stimme von Hoyerswerda oder ähnlich wie Gundermann gleich für die gesamte Lausitz gefragt war. „Nein, das bin ich nicht“, gibt sie zu verstehen, denn „wir sind viele“ und präsentiert wie zum Beweis dafür eine szenische Lesung mit elf Beteiligten aus diesem Kollektiv.
Nach den Pogromen 1991 erlangte Hoyerswerda international traurige Berühmtheit. Neonazis proklamierten Hoyerswerda unter dem Beifall vieler Einwohner zur ersten ausländerfreien Stadt Deutschlands. Die nach 1990 Geborenen wissen nichts darüber, mussten sich damit auch nicht in der Schule beschäftigen. Eltern und Großeltern übten sich in Schweigen. Aus Scham? Oder einfach deshalb, weil sie keine Lust hatten, sich gegen die öffentliche Meinung, die oft nichts anderes als die von Spiegel oder BILD veröffentlichte Meinung ist, zu verteidigen? Grit Lemke geht anders an das Thema heran. Sie hat einen dokumentarischen Roman über Hoyerswerda aus bisher nicht dagewesener Perspektive geschrieben.
Die Lausitz – ihre Geschichte, die Landschaft, die Umbrüche durch Bergbau und Energiewirtschaft, der herbe Menschenschlag und nicht zuletzt der Konflikt zwischen gelebter und verdrängter sorbischer Tradition – hat immer wieder Stoff geboten für gute Literatur. Grit Lemke hat einen weiteren wichtigen Beitrag dazu geleistet. Ihr Buch dürfte zum Besten gehören, was in den letzten dreißig Jahren über den Osten geschrieben wurde.
Man wirft hier „nicht mit hohen Begriffen umher wie mit madigen Pflaumen“, heißt es bei Strittmatter. Der Satz könnte auch von Grit Lemke sein. Für meinen Schwiegervater Helmut, Jahrgang 1923, Wehrmachtssoldat und nach dem Krieg als Schlosser bis zum Lebensende mit heute für die Generation nach 1990 kaum verständlichem Stolz als Arbeiter ausgestattet, war Strittmatter einer „von uns“. „Die da sollen aufhören, dämliches Zeug über ihn zu quatschen.“ Gemeint war damit, „die Wessis verstehen uns nicht, müssen die auch nicht“. Für Helmut wäre Grit Lemke mit ihrem Buch wegen des Themas, ihrer Sprache und des wohlvertrauten Ortes eine von uns. Literatur in der Tradition des Bitterfelder Wegs also?
Ein energisches Nein und ein „um Gottes Willen“ wären verständlich, aber zu kurz gedacht. Denn zu erklären ist erstens, damit das heute verstanden wird, dass in den Hochhäusern von Hoyerswerda Ärzte, Maschinisten, Ingenieure, Krankenschwestern, Künstlerinnen und Philosophen, Bauarbeiter, Verkäuferinnen, Lehrerinnen, Direktoren, zur Bewährung entlassene ehemalige Strafgefangene und lokale Parteigrößen Tür an Tür wohnten. Zum Abitur strebende Kinder waren nicht separiert von jenen, die „normale“ Berufe anstrebten. Das „Behütet-Sein“, sagt Schudi im Roman von Grit Lemke, ging viel weiter als dieses „Helikopter-Ding“ von heute, „… mit vielen unterschiedlichen Menschen. Kinderkrippenerzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Der Spielplatz. Die Nachbarn. Der Block, der Wohnkomplex, der Schulweg. Keine Sorge der Eltern, dass man über die Straße gehen muss. Sehr viel Vertrauen aller Erwachsenen in die Dinge, die da kommen – und in die Kinder. Ich bin schon zum Kindergarten alleine gegangen.“ Schließlich noch die Kittelschürzen: „Eine Kittelschürze ist alle Kittelschürzen. Hat man etwas ausgefressen, geht man besser jeder aus dem Weg. Hat man ein aufgeschlagenes Knie oder eine Rotznase, kann man sich an jede wenden.“
Zweitens muss der damalige Stellenwert von Kunst und Kultur in den heute als öde Kulisse in 20.15-Uhr-Kriminalfilmen stigmatisierten Plattenbauten betont werden. Röhli sagt im Roman: „Das war ja’n ganz komisches Ding in Hoyerswerda: Es gehörte zum guten Ton, eine tragbare kulturelle Bildung zu haben. Es gab … in jeder Wohnung bei uns im Haus, egal ob die Leute Schichtarbeiter waren oder Doktoren, das Bücherregal. Also ich kenn keene Wohnung ohne. Das musste man haben. Und man hat sich alles reingezogen, was da so rumstand.“
Spätestens hier muss etwas über die Sprache gesagt werden. Nicht nur, wenn Grit Lemke Leute aus Hoy, wie sie Hoyerswerda nennt, zitiert, lesen wir von der Koofhalle für Kaufhalle, ooch für auch, meenste für meinst du, zwee für zwei, keene für keine, ni für nicht, angescheuselt für schick angezogen und so weiter. Und dann diese für Fremde schrecklichen, aber geradezu liebevoll gemeinten, Abkürzungen wie WK und GD für Wohnkomplex und Generaldirektor oder seltsame Worte wie Zwischenbelegung, große und kleine Hausordnung, nullte Stunde, rollende Woche, erste, zweete und dritte Schicht sowie die wahre Bedeutung von Ordnung Sicherheit Disziplin. Dazu kommen noch sorbische Wörter oder wenigstens das, was von ihnen im „Hoyerswerdschen Dialekt“ übrigblieb. Grit Lemke schildert starke Typen in ihrem dokumentarischen Roman und muss einfach ihre authentische Sprache präsentieren und damit auch ihr eigenes im Alltag benutztes Reden salonfähig machen. Sie trifft den Ton der Kinder von Hoy und ihrer Eltern. Oder nein, das ist eine zu schwache Aussage. Sie trifft den Sound einer Region und ihres Menschenschlags.
Figuren und Konflikte sind in einer Art zu Kunst verdichtet, die den besonderen Reiz dieses eigenwilligen Buches ausmacht. Das ist für einen dokumentarischen Roman mit eingebauten Interviews und Berichten über tatsächlich Geschehenes nichts Selbstverständliches. Man merkt, dass Grit Lemke vom Dokumentarfilm kommt. Der Roman folgt einer bis ins Letzte durchdachten Dramaturgie. Da ist Rhythmus in der Erzählweise, der das Buch zu einer runden und sehr gut lesbaren Geschichte macht. Der pädagogische Zeigefinger fehlt komplett, auch wenn die Sprache auf die rassistischen Ausschreitungen von 1991 kommt. Grit Lemke geht es nie darum, einen Beitrag zum Verständnis oder zur Rechtfertigung dessen zu leisten, was da geschehen war. Sie folgt auch nicht der momentanen Mode, in gerader Linie die Ursachen im Wesen der DDR zu suchen oder andersherum jeden Zusammenhang zur Stadtgesellschaft oder dem untergegangenen realen Sozialismus zu leugnen.
Sie schildert genau, aber eben von innen heraus, aus der Sicht einer Hoyerswerdschen und kritischen und gleichzeitig bekennenden ehemaligen DDR-Bürgerin, wie die Menschen hier „im ewigen Takt der Schichtbusse, der ein Ende nicht vorsieht“ lebten, wie sie als Erbauer von Schwarze Pumpe und der sozialistischen Planstadt Hoyerswerda vom Gedanken beseelt waren, dass mit ihnen die Geschichte erst beginnt, alles Zukunft war. Lange Zeit waren sich die Leute sicher, dass da noch etwas kommt. Nichts ist vorbei, es geht erst richtig los. Später dann wird klar: „Die Zukunft rückt immer weiter in die Ferne – obwohl sie doch näher kommen müsste.“ Noch später, nach 1989, ist die Zukunft „in einem großen Loch verschwunden“.
Die rassistischen Ausschreitungen tun ein Übriges. Grit Lemke beschreibt nicht einfach einen Vorgang vom Standpunkt des Zuschauers. Sie ist Teil des großen Kollektivs, aus dem das kam, und interessiert sich eben nicht bloß für eine Sache, sondern für die Schicksale von Menschen und erzählt sie uns. Wir lesen bei Grit Lemke: „Später, als Brandsätze in die Wohnheime der Ausländer fliegen und eine Menge sich vor ihnen versammeln und dazu jubeln wird, später wird es heißen, die Gewalt sei aus dem Nichts und von außen gekommen. Das wissen wir nun wirklich besser.“ Aber eine lehrbuchreine Erklärung wird es nicht geben. Grit Lemke bemüht sich auch gar nicht darum.
Mutig ist Lemkes Buch, weil ein Kollektiv der Hauptheld der Geschichte ist. „Kollektiv“ kann dann natürlich nicht in der heute üblichen abwertenden Bedeutung gemeint sein. Grit Lemke schafft es, eine Geschichte sehr unterschiedlicher Typen differenziert und genau zu erzählen. Sie gehen eben nicht in ein kollektives Einerlei auf, sondern werden erst in diesem Kontext zu interessanten Persönlichkeiten. Sie und viele der Leserinnen und Leser bekommen es mit der Frage zu tun, ob über das utopische Potential dieser Zeit überhaupt noch zu sprechen ist. Ich kann mir vorstellen, dass Grit Lemkes Buch bei neugierigen jungen Menschen, die die manchmal doch etwas verklärten Jugenderinnerungen ihrer Großeltern nicht mehr hören können, auf Interesse stößt. Und die Großeltern? Sie werden vielleicht ermuntert, sich anders zu erinnern, kritischer und dennoch nicht dem Druck ausgesetzt, sich einzusortieren als Opfer, Mitläufer oder Täter.
Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror, Suhrkamp 2021, 255 Seiten, 16,00 Euro.
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