24. Jahrgang | Nummer 20 | 27. September 2021

Sonntag in Neuhardenberg

von Renate Hoffmann

Da ist der weiträumige gepflegte Park mit den Baumriesen, dem Teich und dem Wasserlauf. Da sind die geschwungenen Wege, Peter Joseph Lenné, dem Gartenkünstler, verpflichtet. Darin das weiße Schloss in seiner klassischen Kühle und der milden Spätsommersonne. Neuhardenberg, etwa 65 Kilometer östlich von Berlin gelegen. Idealer Ort für die Vereinbarkeit von Natur, Kunst und Kultur. Man fährt dorthin, um diesen Vorzug zu genießen.

In den Ausstellungsräumen des Schlosses und im Freien zeigen elf Rompreisträgerinnen und – preisträger der römischen Villa Massimo ihre Kreationen in Wort, Bild, Ton und in unterschiedlichen Materialien. Neue Bahnen einschlagend, zukunftsweisende Gedanken entwickelnd, Missstände anprangernd.

Die Villa Massimo in Rom ging im Jahr 1910 aus einer Schenkung des Berliner Kaufmanns und Kunstliebhabers Eduard Arnhold hervor (jetzt Deutsche Akademie Rom Villa Massimo) Ein stattliches Anwesen mit Ateliers und zugehörigen Wohnungen, das ausgewählten Künstlern der Bereiche Literatur, Komposition, Architektur und Bildende Kunst einen Aufenthalt für zehn Monate gewährt.

Bei einem Parkspaziergang fesseln mich Idee und Inhalte der Arbeiten von Esra Ersen. Die Künstlerin, gebürtig in Ankara, lebt und arbeitet in Istanbul und Berlin. In knappgefassten Miniaturen gibt sie Einblicke in vergangene Tage am Bosporus. Zehn Tafeln aus Travertin tragen die kleinen literarischen Kunstwerke. Erinnerungen an einfache, jedoch einprägsame Begebenheiten und Eindrücke:

„Bettdecke. – Da meine Großmutter erwartete, dass sie früh die ewige Ruhe finden und so den glücklichsten Tag im Leben ihrer Enkelinnen nicht miterleben würde, sorgte sie dafür, dass jedem von uns eine Bettdecke für die Aussteuer genäht wurde […] Nun liege ich hier, in Rom, unter dieser honigfarbenen Decke aus Atlasseide und denke an meine feinsinnige Großmutter.“ (Übersetzung) – „Pinie. – Pinien und Zypressen waren die ersten, die mir zuflüsterten, dass ich mich hier an einem vertrauten Ort befand. Im Sommer wurden Schaukeln an Pinien befestigt, die auf den Bosporus blickten, und wenn wir uns im Nordostwind in die Lüfte schwangen, war uns, als könnten wir fliegen. […] Die Pinien von damals gibt es heute nicht mehr. In Istanbul ein Baum zu sein ist genau so schwer wie Mensch zu sein; ihm können alle möglichen Dinge zustoßen.“ (Übersetzung)

Der Nachmittag unterm großen Zelt im Schlosspark, und in dieser Umgebung gut eingestimmt auf die Gesprächsrunde: „Ideale Landschaften, Lennè, Pückler und die Gartengestaltung heute.“ Zwei erfahrene Gartenarchitektinnen – Gabriella Pape, Leiterin der Königlichen Gartenakademie Berlin, Adelheid Gräfin Schönborn, die den Neuhardenberger Park nach Lennéschem Muster rekonstruierte und der Literaturwissenschaftler Dino Heicker; das Gespräch leitete Harald Asel (Inforadio rbb). „Gibt es überhaupt ideale Landschaften?“ „Wann ist ein Garten schön?“ „Wenn der Mensch sich darin wohlfühlt!“ – Wie sollen historische Gärten wiederhergestellt werden? Gärten sind lebendig und stets auch ein Spiegelbild der Entstehungszeit. Ihre Entwicklung benötigt Geduld und Weitsicht. –

An die Besonderheiten der Lennèschen Gartengestaltung wird erinnert (gewundene Wege, die an jeder Biegung ein neues Bild eröffnen, Solitärbäume, Sichtachsen). Ebenso an die Pücklerschen Prinzipien (kreativer Umgang mit der Natur, reiche Vegetation, Gruppen ausgesuchter Gehölze, Sichtschneisen, die den scheinbar unbegrenzten Blick in die Ferne freigeben, harmonischer Übergang in die angrenzende Natur). – Die gegenwärtigen Gestaltungsmerkmale bringt man auf den Punkt: Zu viel Stein, zu wenig Grün, mangelnde Ästhetik.

Der Abend unterm Zelt gehört Dagmar Manzel, der großartigen Schauspielerin, die ihr Metier umfassend beherrscht. Sie singt, Metall und Zartheit in der Stimme, frech, melancholisch, voller Trauer, ermutigend, nachdenklich; a-cappella, im Sprechgesang oder getragen von der feingestimmten Begleitung des Pianisten Frank Schulte. Sie liest vor, erzählt, spielt ihre Lieder und Texte und lässt sie mit wenigen Gesten lebendig werden. Und mit ihnen die aufregenden Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, ihren Höhenflug, die Zukunftsträume und das tragische, bedrohliche Ende.

Dagmar Manzel beginnt mit Tucholskys Gedicht „Ideal“: „Ja, das möchste: / Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, / vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße …“ Und sie meint, von diesem Flair als Berlinerin etwas abbekommen zu haben. – Die Namen großer Komponisten und Interpretinnen werden genannt: Friedrich Hollaender, Kurt Weill, Hanns Eisler, Arnold Schönberg; Fritzi Massary, Lotte Lenya, Claire Waldoff. Die berühmten Spielstätten erstehen: Das Varieté-Theater „Wintergarten“ im Central-Hotel in der Berliner Friedrichstraße, das Kabarett „Schall und Rauch“, die „Scala“. – Die Schauspielerin erweckt eine Epoche zum Leben. Hinreißend, mitreißend. Begeisterter Beifall.

Der Sonntag in Neuhardenberg klingt aus bei einem Glas Wein und frohen Gedanken über die Vorankündigung zurückgewonnener Kultur.