24. Jahrgang | Nummer 20 | 27. September 2021

Laschets allerletzte Patrone

von Waldemar Landsberger

Das „Rote-Socken-Modell ist die letzte Patrone, die Laschet noch im Gewehrlauf hat“, hatte Wolfgang Kubicki, seines Zeichens stellvertretender FDP-Vorsitzender, am 8. September gesagt. Wenige Tage später griff der Kommentator Thomas Schmoll (ntv,12. September 2021) das Bild auf und fügte hinzu, es sei „nicht frei von Ironie, dass Armin Laschet die letzte Patrone, die er noch zu haben glaubt“ – das ist bereits etwas anderes, als das „hat“ bei Kubicki – „sich faktisch selbst gegossen hat“. Und weiter: „Nur weil der Kanzlerkandidat es binnen weniger Wochen geschafft hat, die Union in Niederungen der Wählergunst zu führen, die vor Monaten noch undenkbar waren, kann er jetzt den rot-rot-grünen Teufel an die Wand pinnen.“ Für den Zustand der CDU in der Schlussphase des Wahlkampfes verantwortlich sei jedoch nicht nur Merkels Entkernung der Partei und Laschets Eifer, unbedingt Kanzler werden zu wollen, obwohl Wählerumfragen und weite Teile auch der CDU Markus Söder bevorzugten, Ursache war ebenfalls das von Laschet abgegebene „Bild vom unsensiblen, desinteressierten, oberflächlichen, wurstigen und mäßig interessierten Politiker“.

Als Kubicki von der letzten Patrone sprach, konnte er nicht wissen, dass einen Tag später, am 9. September, noch eine allerletzte Patrone gegossen werden würde. In Gestalt einer Durchsuchung im Bundesfinanzministerium, an dessen Spitze der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz steht, sowie im Bundesjustizministerium, das von Christine Lambrecht, ebenfalls SPD, geführt wird. Statt des „Schwarzen Jägers Samiel“, wie in Webers Oper „Der Freischütz“, kümmerte sich offenbar die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza (CDU) um die „Freikugel“, die unbedingt treffen sollte. Bekanntlich sind Staatsanwaltschaften in Deutschland weisungsgebunden; oberster Dienstherr der agierenden Osnabrücker Staatsanwaltschaft ist die Justizministerin Niedersachsens. Der leitende Staatsanwalt namens Bernard Südbeck ist ebenfalls aktives CDU-Mitglied.

Der bereits zitierte Schmoll meinte: „Immerhin hat sich die Staatsanwaltschaft Osnabrück erbarmt und rechtzeitig vor der Wahl – absichtlich oder nicht – Laschet den Gefallen getan, Räume des Bundesfinanzministeriums zu durchsuchen. Das mag dem Kanzlerkandidaten der Union ein wenig Luft zu verschaffen, offenbart aber auch, dass es solcher Schützenhilfe bedarf, damit er wieder hoffen kann.“ Mit anderen Worten: nur ein Samiel konnte Laschet noch retten. Einsichtigen Kreisen der Christdemokratie war das drei Wochen vor der Wahl bewusst. Die Berliner Zeitung (11./12. September 2021) zitierte einen erfahrenen Strafverteidiger: „Die Staatsanwaltschaft hat sich hier ohne Not in eine Rechtfertigungslage begeben […]. Sie sollte begründen, warum sie knapp drei Wochen vor der Bundestagswahl die Durchsuchungsbeschlüsse vollstrecken musste und nicht bis zur Wahl damit warten konnte. Tut sie dies nicht, bleibt ein unschöner Verdacht bestehen, der in einem Rechtsstaat nie aufkommen sollte: der Verdacht einer Politisierung der Justiz.“

Olaf Scholz reagierte zunächst angesäuert, die Staatsanwaltschaft hätte ihre Anfragen auch schriftlich stellen können. Zumal, wie es schließlich hieß, im Bundesfinanzministerium nur die elektronischen Postfächer zweier Mitarbeiter ausgeräumt wurden, während aus dem Bundesjustizministerium eine Akte und eine CD mit Daten mitgenommen wurden. Offenbar eher Symbolik. Laschet allerdings nutzte den Vorgang, um Scholz vorzuwerfen, er hätte kein ordentliches Rechtsstaatsverständnis und vor allem seinen Apparat nicht im Griff. Was meinte: wenn er nicht einmal ein Ministerium kontrollieren könne, wie wolle er dann das Land regieren.

Hier bleibt zweierlei anzumerken. Die „Financial Intelligence Unit“ (FIU) ist eine Sondereinheit, die Geldwäsche bekämpfen soll. Sie sammelt und analysiert als Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen Verdachtsmeldungen nach dem Geldwäschegesetz. Sie war in der vorigen Wahlperiode unter dem damaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) vom Bundeskriminalamt zum Zoll verlegt worden. Er, der als Innenminister zuvor Herr über die Bundespolizei war, wollte wohl auch als Finanzminister über eine eigene Verfügungstruppe gebieten. Polizeigewerkschaft und verschiedene Innenpolitiker warnten vor dem Übergang, zumal die Zöllner von den Datenbanken der Polizei institutionell abgeschnitten wurden. Die Verdachtsmeldungen nahmen rasch zu, die Quote der Aufklärung und Verfolgung ging zurück. Scholz stockte die Kapazitäten der FIU auf, personell und technisch. Gleichwohl wurden staatsanwaltschaftliche Ermittlungen in Gang gesetzt, unter dem Verdacht auf „Strafvereitelung im Amt“. FIU-Mitarbeiter sollen Hinweise von Banken auf Geldwäsche „in Millionenhöhe“ nicht an Polizei und Justiz weitergeleitet haben. Die Dienststelle befindet sich zwar in Köln, doch wurde behauptet, man habe ausgerechnet jetzt Ermittlungsergebnisse aus den Bundesministerien beiziehen müssen.

Abgesehen davon, dass der Verdacht, die Osnabrücker Staatsanwaltschaft habe aus durchsichtigen politischen Motiven heraus gehandelt, weiter im Raum steht, sind weiterreichende Fragen grundsätzlicherer Art zu beantworten. Da ist zunächst das Problem echter Gewaltenteilung zwischen Exekutive (Bundesregierung), Legislative (Bundestag) und Judikative (Gerichtssystem). Abgeordnete des Bundestages genießen Immunität, das heißt ein Abgeordneter darf wegen einer „mit Strafe bedrohten Handlung […] nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden“ (Art. 46 GG). Eine Aufhebung der Immunität zum Zwecke strafrechtlicher Verfolgung bedarf der förmlichen Genehmigung durch den Bundestag. Insofern stellt sich die Frage, weshalb Ministerien des Bundes als Institutionen schlechter gestellt sind, als ein einzelner Abgeordneter, dass also die Staatsanwaltschaft eines Bundeslandes auf Grundlage eines Gerichtsbeschlusses in ein Bundesministerium einrücken und dort Akten oder andere Dokumente beschlagnahmen kann. Die Vorstellung, eine solche Staatsanwaltschaft sei einem solchen Ministerium übergeordnet, ist einigermaßen absurd.

Zumal es – zumindest gemäß den bis Mitte September vorliegenden Informationen – nicht um eine strafrechtliche Verantwortung einzelner Mitarbeiter des Ministeriums oder auch der FIU ging, sondern um die Untersuchung und Aufklärung eines vermuteten institutionellen Organisationsversagens. Für die Überwachung wären gegebenenfalls der Bundestag und seine Ausschüsse zuständig. Ein staatsanwaltschaftliches Vorgehen gegen ein Bundesministerium müsste im Sinne echter Gewaltenteilung durch den Bundesgerichtshof genehmigt werden. Besonders delikat wird es an der Stelle, dass im föderativen System Deutschlands zwar die Verwaltung der Justiz, Rechtspflege und Strafverfolgung in erster Linie Sache der Bundesländer ist, gleichwohl die Aufgabe des Bundes auf dem Gebiet der Justiz darin besteht, die Sicherung und Fortentwicklung des Rechtsstaats zu gewährleisten. Insofern hat die Oldenburger Staatsanwaltschaft ein Ministerium durchsucht, das im Grunde dem eigenen niedersächsischen Ministerium übergeordnet ist.

Wenn dieser Text erscheint, wissen die Leser bereits, ob Laschet wieder in der linksrheinischen Provinz verschwindet. Es scheint jedoch dringlich, dass die CDU ihres Gewandes einer Staatspartei entkleidet wird. Auch im Sinne des Rechtsstaates.