24. Jahrgang | Nummer 20 | 27. September 2021

Binz und der Berliner Bankenskandal

von Dieter Naumann

Das 1318 erstmals in einer Steuererhebung der Putbusschen Grafschaft Streu urkundlich erwähnte Fischer- und Bauerndorf „Byntze“ sollte nach Sagard, Putbus/Lauterbach und Saßnitz/Crampas der nächste bedeutende Badeort auf Rügen werden.

Zunächst dümpelte der Ort vor sich hin. Zum Strand führte an der Ahlbek, einem Abfluss des Schmachter Sees, ein kleiner Fußsteig, hier waren zwei Hütten aufgestellt, gerade groß genug, dass sich darin je eine Person entkleiden konnte. Auf ein paar Brettern gelangte man zum Meer und badete nackt. Die Zeit des Herren- und Damenbadens wurde „nach freundschaftlichem Uebereinkommen geregelt“, vermerkt Schusters „Reiseführer durch Binz“ 1912 rückblickend.

Bald ließ der Fürst zu Putbus Badehütten aus Schilf und Badekarren an der Mündung der Ahlbek aufstellen, um seine adeligen Badelustigen, denen das Baden im Greifswalder Bodden nicht mehr genügte, bei der Stange zu halten. Logis nahmen die Gäste des Fürsten in Putbus beziehungsweise ab 1840 im Jagdschloss oder im Forst- und Gästehaus Granitz und wurden mit Kutschen zum Baden transportiert. Die einsame Lage und die schlechten Straßenverhältnisse machten dem jedoch bald ein Ende. Um 1850 waren die alten Badeeinrichtungen verfallen.

Unmittelbar gegenüber dem Dorfkrug entstand 1867 durch Kapitän Christian F. Potenberg mit „Potenberg’s Hotel“ das erste Hotel von Binz (heute Haus „Godewind“). Im Schweizer Fachwerkstil errichtet, verfügte es anfangs über 40 Betten. 1882 ließ Fürst Wilhelm Malte von Putbus die erste Straße von Binz anlegen (Putbusser Straße), parzellierte die angrenzenden Flächen und verkaufte sie. „Es werden dort […] villenartige Logierhäuser entstehen, wodurch dann einer größeren Anzahl von Badegästen das Wohnen in der nächsten Nähe des Strandes ermöglicht wird“, sagt Edwin Müller in seinem Reiseführer von 1886 voraus. Den Clou hatte jedoch Unternehmer Wilhelm Carl Gustav Klünder gelandet: 1883 entstand am „Aalbeker Strande“ mit seinem „Strand-Hôtel“ das zweite bedeutende Hotel von Binz, ebenfalls im Schweizer Fachwerkstil. Klünder hatte die Zeichen der Zeit erkannt und reagierte auf die Wünsche der Badegäste, denen der Weg vom Dorfkrug oder von Potenbergs Hotel zum Meer zu lang war. Die Lage des Hotels unmittelbar am Strand war nicht nur eine kleine Sensation, hielten doch die Fischer mit ihren Katen in der Regel 800 Meter Sicherheitsabstand zum Wasser ein, sondern auch ein kluger Schachzug: Immer mehr Badegäste wollten in den Sommermonaten direkt am Strand wohnen – das ging jedoch zunächst nur bei Klünder, der das Hotel mehrfach erweitern musste.

Bis dahin hatte sich Binz trotz des zunehmenden Besuches kaum verändert. „Das Leben im Orte ist zwanglos, und selbst im Strandhôtel, wo sich zum Teil ein sehr distinguiertes Badepublikum einlogiert hatte, konnte jeder nach seiner Façon selig werden. Man lebt nur in der Natur, badet, ißt und trinkt, geht spazieren oder faulenzt; durch Musik und Tanz wird man nicht viel belästigt“, resümiert der Reiseführer von Müller 1886. Noch drei Jahre später stellt auch der Seelig-Reiseführer fest: „Luxus-Toiletten mitzubringen ist unnöthig, man wird wenig durch Vergnügungen behelligt.“ Die Entwicklung war aber längst nicht mehr aufzuhalten, witterten doch auch einige Berliner Millionäre das große Geschäft: Die „Hofbanquiers“ Sigmund und Felix Sommerfeld und Hermann Friedländer ließen am 27. April 1889 die „Ostseebad Binz Aktiengesellschaft“ mit einem Kapital von 400.000 Mark registrieren, erhielten vom Putbusser Fürsten bestimmte Nutzungsrechte und begannen zu bauen. Ihr Berliner Institut, die „Wechselbank Hermann Friedländer & Sommerfeld“ Unter den Linden 45, und amerikanische Aktionäre beschafften das notwendige Geld.

Zunächst lief auch alles gut, die steigenden Gästezahlen gaben den Investoren recht. Waren es 1870 noch etwa 80 Badegäste, die Binz aufsuchten, stieg die Zahl 1890 auf 3246 Besucher.

„Um die Verschönerung des Ortes macht sich die Actien-Gesellschaft ‚Ostseebad Binz‘ ausserordentlich verdient. Das […] Kurhaus mit einem 300 Personen fassenden Table d´hôte-Saal, Musiksaal, Lese-, Billard- und Rauchzimmer und anderen Räumlichkeiten ist eine Schöpfung dieser Gesellschaft; weitere Anlagen und Bauten stehen bevor“, schreibt der Reiseführer von Dunker in seiner dritten Auflage.

Nach reichlich zwei Jahren war es allerdings mit der Herrlichkeit vorbei. Die Gesellschaft ging 1891 in Konkurs, was zu einem zeitweisen Entwicklungsstau in Binz führte und deshalb in fast allen Reiseführern noch jahrelang bedauert wurde. Dabei war bei den Geschäften in Binz gar nichts schief gelaufen, die Ursache lag in Berlin und ging als „Berliner Bankenskandal“ in die Geschichte ein. Zum einen brachten Börsenspekulationen anderer Banken, an denen die Wechselbank beteiligt war, das Institut ins Straucheln. Vor allem der Konkurs des Bankhauses Carl Wilhelm Schnöckel jr. wird in diesem Zusammenhang hervorgehoben. Verbindlichkeiten von 2 Millionen Mark konnte Schnöckel nicht zurückzahlen und nahm sich daraufhin das Leben. Auch das Bankhaus Hirschfeld & Anton Wolff stellte bei einem Verlust von 5 Millionen Mark die Zahlungen ein. Kommerzienrat Anton Emil Wolff hatte Depoteinlagen seiner Kunden, darunter viele Angehörige des Hofes, zur Finanzierung seiner Spielsucht missbraucht. Zum anderen hatte die Berliner Wechselbank aber auch selbst ihren Kunden gehörende Wertpapiere zum Zwecke des Eigenhandels in Differenzgeschäften verwendet und sich daran bereichert.

Der Deutsche Correspondent, gegründet und betrieben von deutschen Einwanderern in Baltimore, Maryland, schreibt am 11. November 1891: „Zu Denen, welche durch die Berliner Bankfirma Friedländer & Sommerfeld Verluste erleiden, gehören auch der berühmte Gast des ‚Amberg-Theaters‘ in New-York, Matkowsky, und der sich ebenfalls in New-York befindliche Cellist Heinrich Grünfeld. M. verliert 120,000, Grünfeld 50,000 Mark. Selbst die Grünfeld für seine amerikanischen Touren garantirte Summe hat er zum Theile dort angelegt. Hr. Heinrich Grünfeld hatte selbst häufig in dem Hause des Bankiers, der Künstlern stets große Gastfreundschaft erwies, verkehrt. Er war wie aus allen Wolken gefallen, als er von dem Krach las.“

Die Brüder Sommerfeld begingen Selbstmord, über den sogar The New York Times berichtete. Felix starb am 7. November 1891 im Königlichen Klinikum Berlin an seinen Schussverletzungen, er wurde nur knapp 37 Jahre alt, Sigmund starb am 9. November 1891 im gleichen Klinikum ebenfalls an den selbst zugefügten Schussverletzungen, er wurde 40 Jahre alt. Hermann Friedländer starb 1894 (unsicher). Da die Sommerfelds Juden waren, fabulierten antisemitische Kreise über „jüdische Begehrlichkeiten“, „jüdische Corruption“ und dergleichen. „Einem christlichen Bankhause […] kann so etwas nie passiren“, wurde ein antisemitisches Blatt in den Mittheilungen zur Abwehr des Antisemitismus, Jahrgang 1891-92, wiedergegeben. Die zitierten Autoren hatten freilich „übersehen“, dass einige der in den Skandal verwickelten Banken zwar durch christliche Bankiers, wie zum Beispiel den Schnökel jr., geführt wurden, was sie aber nicht davon abhielt, fremdes Geld zu Spekulationen und persönlicher Bereicherung zu missbrauchen.

Die nun folgenden, über mehrere Jahre andauernden Rechtsstreitigkeiten ernährten ein Heer von Advokaten. Gustav Müller registriert 1891 in seinem Reiseführer, dass die Weiterführung der Geschäfte nunmehr über die Konkursverwaltung in Berlin erfolge (bis 1901). Nutznießer war schließlich der Fürst zu Putbus, der den lukrativen Teil der Konkursmasse aufkaufte und über eine Verwertungsgesellschaft scheibchenweise verpachtete.