24. Jahrgang | Nummer 18 | 30. August 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Ein deutsches Leben“; mit Brigitte Grothum – Schlosspark Theater

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Brunhilde Pomsel war drei Jahre lang Sekretärin von Joseph Goebbels und wurde 105 Jahre alt, als sie 2017 starb. Noch drei Jahre vor ihrem Tod gab die Berlinerin dem britischen Autor Christopher Hampton, Jahrgang 1946, ein ausführliches Interview.

Anschaulich erzählte da die Hochbetagte von ihrer Kindheit im Stadtteil Südende mit den vier jüngeren Geschwistern im Ersten Weltkrieg, vom Vater, der sich als Tapezierer und Dekorateur durchschlägt, von der Schule, in der sie glänzte, die sie aber (bei fünf Kindern war das Geld knapp) schon mit 15 Jahren verlassen musste. Sie kam als Volontärin in einem Kaufhaus unter, lernte Steno und Maschine, arbeitete in einer (jüdischen) Anwaltskanzlei, ging fleißig Feiern und Tanzen, hatte einen Freund in der NSDAP, der sie als Stenotypistin im Reichsrundfunk in der Masurenallee vermittelte. Durch Zufall kam sie 1942 ins Sekretariat von Reichspropagandaminister Dr. Goebbels; nicht ohne zuvor schnell noch in die NSDAP einzutreten, „man musste doch…“. Und dort blieb sie, bis die Russen kamen, die sie – nach ihrer Meinung unbegreiflicherweise und zu Unrecht – erst in Buchenwald und dann in Sachsenhausen für fünf Jahre einsperrten. – Übrigens, sehr viel später wurde Pomsel Chefsekretärin bei der ARD.

Sie sei ja, beteuerte sie vehement, „bloß“ Schreibkraft gewesen; für Politik habe sie sich nie auch nur im Entferntesten interessiert. Sie habe unbeschwert, verliebt und inzwischen gutsituiert ihr Leben genossen „im damals wunderschönen Berlin in einer wunderschönen Zeit“. Von Konzentrationslagern oder Judenverfolgung habe „man“ zwar entfernt gehört, es aber als notwendig oder harmlos beiseitegeschoben. Und Goebbels, den sie ja alle „wie ein Naturereignis, wie Jesus“ bewunderten, der hätte sich ohnehin nur für feine Damen und Filmschauspielerinnen interessiert (er gab sogar ein Festessen für seine Schreibmädels auf Schwanenwerder). Für den Doktor „waren wir aber doch nichts weiter als Mobiliar“. – Ja, die Sportpalast-Rede, die sei unschön gewesen mit dem schrecklichen Heil-Gebrüll. Aber sonst war eben alles „schön“. Und Frau Goebbels habe ihr sogar, als die Familie in Südende ausgebombt wurde, noch im Bunker zum Trost aus ihrem Kleiderschrank „ein herrliches blaues Seidenkostüm“ geschenkt.

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Das alles erzählte „Pomselchen“ wie gesagt sieben Jahrzehnte später ihrem englischen Interviewer, der daraus einen so eindrucksvollen wie aufschlussreichen Monolog fasste. Hamptons Stück „Ein deutsches Leben“ wurde im vorvergangenen Jahr in London mit großem Erfolg uraufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung in der Übersetzung von Sabine Pribil war kurz vorm Lockdown im Schlosspark unter der feinfühligen Regie Philip Tiedemanns mit Brigitte Grothum.

Der beklemmende Abend besticht durch das genaue Einfühlen in dieses Menschenleben unterm „glückselig machenden“ Hakenkreuz, durchs unaufgeregte Lebendig-Machen dieser Paradefigur deutschen Sich-blind-Stellens, Nicht-wissen-Wollens und Verdrängens und womöglich bewussten oder unbewussten Lügens. Ein Triumph der Brigitte Grothum.

Diesen Kraftakt an Intensität und Konzentration in siebzig Minuten – keine Innenschau der NS-Machtstaates, sondern ein Schlaglicht auf einen Durchschnittsmenschen dieser Zeit – das alles meistert die Grothum, sie ist 86 jetzt Jahre alt, mit einer bewundernswerten Souveränität und Leichtigkeit. „Wir haben nichts wissen wollen, und die was wussten, haben geschwiegen“, sagt die Pomsel und erschrickt sich im Nachhinein selbst ein klein bisschen darüber. Aber eben höchstens ein klein bisschen.

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Ansonsten sind die Erinnerungen der Zeitzeugin (!) an Diktatur und Krieg („Ja, nach Stalingrad wurde alles strenger.“) überstrahlt (oder verstrahlt) vom ach so guten Leben im an- und aufregenden NS-Berlin. Auch das ist Zeitzeugenschaft. Sogar bei ihrer Schreibarbeit im Zentrum des Machtapparats, in einer Zentrale des Verbrechens („zuletzt gab es nur noch Spargel und Wein“), da sei ihr nichts Besonderes aufgefallen. – Ist das nun typisch deutsch? Oder typisch Mensch? Jedenfalls ist es unglaublich.

Ein Phänomen, das Brigitte Grothum zwingend nacherlebbar macht. Zwar äußerlich beherrscht und ohne denunziatorische Zwischentöne, doch an den bizarrsten Punkten der Pomsel-Rede spürt man schon das innere Entsetzen und die Wut der Schauspielerin über ihre Figur. – Gerade diese kunstvolle Mischung aus Empathie und Distanz macht die Aufführung so bestürzend. Und zu einer angesichts gegenwärtiger Umstände geradezu unheimlichen Warnung an das gebannte Publikum, nicht auch (wieder) zu einer „blinden und dummen“ Mitläuferin wie Brunhilde Pomsel zu werden. Der Abend fügt sich zu einem unvergesslichen Menetekel vor einem solchen deutschen Leben, vor einer wieder ausbrechenden „Pomselei“.

Wieder am 18. September, 16 Uhr. Die legendäre Berliner Schauspielerin Brigitte Grothum hatte ihr Debüt vor sechseinhalb Jahrzehnten im Schlosspark Theater.