24. Jahrgang | Nummer 17 | 16. August 2021

Nur zwei Prozent …

von Stephan Wohanka

Die Zeitenläufe bringen es – leider oder doch besser: nun endlich – mit sich, dass viele Gespräche sich schnell um den Klimawandel drehen. Häufig ist in diesen Debatten zu hören, die Bundesrepublik sei doch nur für zwei Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Namentlich interessierte Politiker und Lobbyisten werden nicht müde, diese Zahl zu verbreiten. Suggeriert oder gar explizit ausgesprochen wird, was die Aussage bezweckt: Weil der deutsche Anteil (oder auch der anderer Staaten oder einzelner Wirtschaftsbranchen) am menschengemachten Klimawandel so klein sei, könne man gar nichts oder nur wenig für den Klimaschutz tun. Das „Anteil ist klein“-Argument will durch die Suggestivkraft einer faktisch geringen Zahl bewusst in die Irre führen.

Tatsächlich, die Zwei-Prozent-Zahl für den deutschen Emissionsanteil stimmt in etwa. Nur hinkt sie vorn und hinten. Denn unser Land liegt mit seinen Emissionen von rund 702 Millionen Tonnen CO2 (Stand 2019) auf dem 7. Rang weltweit. Das heißt: Rund 190 Staaten liegen hinter der Bundesrepublik; zum Teil deutlich wie Frankreich, Großbritannien, Italien mit jeweils weniger als der Hälfte des deutschen Ausstoßes. Zieht man die Pro-Kopf-Emission in Betrachtung – die einzig reelle Rechnung –, verschiebt sich das Bild weiter zu unseren Ungunsten: Im weltweiten Durchschnitt stößt jeder Erdenbürger pro Jahr rund fünf Tonnen CO2 aus, hierzulande sind es jedoch 8,4 Tonnen. Die deutschen Pro-Kopf-Emissionen sind damit etwa 30-mal höher als die in Staaten wie Kenia oder Nepal. Selbst China liegt in dieser Rechnung hinter uns.

Eine historische Betrachtung rückte desgleichen Deutschland deutlich nach vorn. Da die Wirkung des Treibhausgases CO2 in der Erdatmosphäre teilweise über Hunderte von Jahren anhält, sind für den Beitrag einzelner Staaten zum gegenwärtigen Klimawandel nicht nur die momentanen, sondern die über längere Zeiträume addierten Emissionen maßgeblich. Betrachtet man den Treibhausgas-Ausstoß zum Beispiel zwischen 1850 und 2002, dann ändert sich das Bild deutlich: Die USA kommen auf 29,3 Prozent, China auf 7,6 Prozent, Deutschland auf 7,3 Prozent aller Emissionen in diesem Zeitraum. Deutschland rückte also in der Rangfolge der Verursacherstaaten deutlich nach vorn.

Außer Acht gelassen wird außerdem, dass Industriestaaten wie Deutschland in den vergangenen Jahren einen erheblichen Teil ihrer CO2-Emissionen in Schwellen- und Entwicklungsländer „ausgelagert“ haben. Durch die stark gestiegenen Handelsverflechtungen im Zuge der Globalisierung sind gerade energie- und damit auch klimaintensive Betriebe und Wirtschaftszweige oder auch Produktionen aus Industriestaaten in die genannten Länder verlegt worden; Fachleute sprechen hier von „indirekten Emissionstransfers“. Schätzungsweise ein Fünftel der weltweiten Emission geht auf Güter zurück, die letztlich in einem anderen Land verbraucht werden.

Auch logisch hinkt die Zwei-Prozent-Argumentation: Will man hierzulande die klimaschädlichen Emissionen praktisch senken, muss man sie weiter aufteilen – auf Branchen, Industriezweige, letztlich alle Verursacher, um deren Anteile an der Reduktion zu bestimmen. Darunter werden auch solche sein, deren Anteil „klein“ ist. Sollten sie sich mit dieser Begründung heraushalten können? Alles in allem – Deutschland hat deshalb nicht weniger, sondern deutlich mehr zum Klimaschutz beizutragen als fast alle anderen Staaten.

Die deutsche Pflicht zu ambitioniertem Klimaschutz besteht also seit geraumer Zeit. Sie wurde nicht erst jetzt schlagartig mit den desaströsen Unwettern im Westen des Landes deutlich. Zum Ende ihrer Amtszeit hat Kanzlerin Angela Merkel – zeitweilig sogar Klimakanzlerin genannt – Versäumnisse in der deutschen Klimaschutz-Politik eingeräumt. Gemessen an dem Ziel, den weltweiten Temperaturanstieg auf zwei Grad zu begrenzen, sei während ihrer Kanzlerschaft „nicht ausreichend viel passiert.“ „Die objektiven Gegebenheiten (erfordern es), dass man … schneller werden muss.“ Abgesehen davon, dass das eine überaus „milde“ Formulierung für jahrelanges Nichtstun, ja Blockaden einschlägiger Initiativen ist – wie ist es dazu gekommen? Sicherlich spielen – wie oben schon angedeutet – Lobbyisten eine Rolle, die den gering ausgeprägten politischen Willen zu einer entschlossenen Klimapolitik weiter schwächten. Darüber hinaus handelt es sich um einen typischen Fall dessen, was in der Psychologie oder auch der Organisationstheorie als „Verantwortungsdiffusion“ bezeichnet wird: Viele Akteure – hier Ministerien, Behörden, Bundesländer et cetera – stehen für eine zu erledigende Aufgabe zur Verfügung und/oder in der Verantwortung, weisen letztere jedoch anderen zu; und eine koordinierende, zusammenführende übergeordnete Instanz fehlt oder nimmt ihre spezifische Vollmacht („Richtlinienkompetenz“ oder auch „Kanzlerprinzip“) nicht oder zu wenig wahr. Siehe Merkel.

Es stehen Bundestagswahlen an, Merkel tritt nicht mehr an – wer wird Kanzler oder Kanzlerin? Ich will hier nicht im Kaffeesatz lesen; aber fest steht wohl, dass die CDU/CSU wieder die stärkste Fraktion im neuen Bundestag stellen wird. Die Union und ihre Funktionsträger werden also weiterhin maßgeblichen Einfluss auf die Umwelt- und Klimapolitik dieses Landes haben. Armin Laschet – ob dann Kanzler oder nicht – ist Vorsitzender der CDU. Wofür steht dieser Mann in der Klimafrage? Wohl eher fürs Lavieren, für einen Zickzack-Kurs als für eine klare inhaltliche Linie. Angesichts der Flutkatastrophe müsse man „alles gegen den Klimawandel tun“. Wiederum sei Klimapolitik „seit 30, 40 Jahren bekannt“, er erinnere sich an unterschiedliche „Debattenphasen“. Und übrigens: In den zurückliegenden 16 Jahren Regierungsführerschaft „haben auch andere mitregiert“. Alles in allem – eine klare klimapolitische Position, ja „Führerschaft“ hörte sich anders an. „Allen recht und keinem wehe“ macht Laschet zu einem Getriebenen, keinem Gestalter.

Was bleibt daher zu tun? Das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 – im Bundestag im September 2016 einstimmig ratifiziert – hat die Frage längst beantwortet; es hat Klimaschutzanstrengungen für alle Staaten verbindlich gemacht, eingeschlossen Überprüfungen und Verschärfungen. Völkerrechtlich verbindlich ist darin festgeschrieben, dass „alle Vertragsparteien“ ihre eigenen Emissionen mit „ehrgeizigen“ Maßnahmen zu senken haben – und zwar grundsätzlich unabhängig davon, welchen Anteil an den Gesamtemissionen jede einzelne hat. Und das völlig zu Recht: Der Klimawandel kann nur durch eine gemeinschaftliche Anstrengung aller Staaten bekämpft werden. Denn anders als von Kritikern des Abkommens oft behauptet enthält es sehr wohl Klimaschutz-Pflichten auch für Entwicklungs- und Schwellenländer.

Auf Ebene nationalen Rechts hat sich das Bundesverfassungsgericht im März dieses Jahres mit Klimaschutzfragen befasst; es hält unmissverständlich fest: „Der Staat (kann) sich seiner Verantwortung nicht durch den Hinweis auf die Treibhausgasemissionen in anderen Staaten entziehen. Aus der spezifischen Angewiesenheit auf die internationale Staatengemeinschaft folgt vielmehr umgekehrt die verfassungsrechtliche Notwendigkeit, eigene Maßnahmen zum Klimaschutz tatsächlich zu ergreifen und für andere Staaten keine Anreize zu setzen, das erforderliche Zusammenwirken zu unterlaufen.“ Damit ist alles gesagt.

Eine Nachbemerkung: Oben verwendete Zahlen und die ihnen zugrunde liegenden Statistiken sind durchaus problematisch. Nicht immer liegen exakte Angaben vor, Schätzungen ergänzen diese Lücken. Im globalen Kontext geht es auch eher um Proportionen, Größenverhältnisse. Und um es ganz vorsichtig auszudrücken: Sie lassen keine Zweifel zu, dass, wie schon gesagt, Deutschland, also wir alle, alles Menschenmöglich-Vernünftige unternehmen müssen, um die Erhöhung der Erdtemperatur so gering wie möglich zu halten.