Kinderarmut wird in der Öffentlichkeit selten so richtig wahrgenommen. Und wenn sich in der Vorweihnachtszeit die Besucher in den Kaufhäusern drängeln, wird eher von einer Konsum- oder Wohlstandsgesellschaft und vom überbordenden Reichtum des Landes gesprochen. Manche Kinderzimmer können das Spielzeug kaum fassen, das da geschenkt wird. Auch Nahrungsmittelverschwendung und der Trend zur Wegwerfgesellschaft scheinen der Feststellung, es gebe Armut, Hohn zu sprechen. Und doch gibt es sie, Armut und Kinderarmut. Zumeist wird sie versteckt und weil sie in einer reichen Gesellschaft oft verachtet wird (ich erinnere mich eines Autoaufklebers „Eure Armut kotzt mich an.“), versteckt sie sich – Ausnahmen bestätigen die Regel – auch aus eigenem Antrieb. Wer wird da nicht an Brechts Moritat vom Kleinkriminellen Mackie Messer erinnert:
„Denn die einen sind im Dunkeln
Und die anderen sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte,
Die im Dunkeln sieht man nicht.“
Christoph Butterwegge, durch eine Vielzahl von Büchern und Auftritten über Armut, Ungleichheit und Ungerechtigkeit bekannt und seine Frau, die Armutsforscherin Carolin Butterwegge, haben jetzt ein Buch „Kinderungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ veröffentlicht. Darin wird nicht nur die Armut von Kindern aus dem Dunkel geholt, auch der Reichtum, in den Kinder einer bestimmten Schicht hineingeboren werden, wird beleuchtet. Kinderarmut und Kinderreichtum sind dabei in einer besonderen Weise miteinander verbunden. Kinderreichtum kann mit bitterster Kinderarmut einhergehen. Trotz der vielen, zur Milderung der Armut von Kindern geschaffener Einzelinstrumente hat sie in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Außer den Reichen können sich eigentlich immer weniger Familien Kinderreichtum leisten.
Die Butterwegges haben das Problem in einer umfassenden Darstellung und Analyse von Fakten und empirischen Beobachtungen ausgebreitet. Obwohl sie teils empörende Tatsachen darstellen, bleibt der Ton distanziert und sachlich. Bei vielen Auftritten und in manchen Talkshows, die ihn landesweit bekannt gemacht haben, hat man Butterwegge da schon ganz anders erlebt. Aber in der Tat sind die nüchternen Fakten nicht nur empörend, sondern auch ernüchternd. Nach Klärung wichtiger Grundbegriffe der Sozialstatistik und deren Grenzen wird anhand einschlägiger Vermögens- und Einkommensanalysen gezeigt, in welch unfassbarem Ausmaß der Reichtum in diesem Land gewachsen ist und sich die großen Vermögen bei einem geringen Prozentsatz aller Familien konzentrieren. Ein immer größerer Teil des Reichtums der oberen Zehntausend beruht dabei keineswegs auf eigener Leistung – selbst wenn das Organisieren von Ausbeutung, Kapitalverwertung und Vermögenszuwachs als Leistung verstanden würde – sondern entspringt einem Erbe oder einer Schenkung. Zwei Drittel der befragten Hochvermögenden geben an, dass Erbschaften und Schenkungen mit maßgeblich für ihren Vermögensaufbau sind. Der jüngste Multimilliardär der Welt ist der 18-jährige Kevin David Lehmann; sein Vater hatte dem damals Vierzehnjährigen 50 Prozent der Anteile des dm-Drogerie-Konzerns, geschätzte 2,8 Milliarden Euro, in Form eines bis zur Volljährigkeit treuhänderisch verwalteten Fonds übertragen. Aber auch unabhängig vom Erbe wachsen die Vermögen der Oberschicht schneller als beim Durchschnitt und die unteren Schichten verfügen faktisch über gar kein Vermögen.
Auf der Seite der Armut ist ebenfalls das Erbe entscheidend; Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Das Phänomen ist längst nicht mehr auf Randgruppen beschränkt. Seit Anfang dieses Jahrhunderts ist der Anteil der von Armut betroffenen oder armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen auf den Rekordstand von 20,5 Prozent gestiegen. „Von den etwa 13,5 Millionen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren, die hierzulande in 8,2 Millionen Familien leben, wachsen 2,8 Millionen in einer Armutslage auf. Die meisten von ihnen (2,4 Millionen) sind jünger als 15 Jahre. Entweder beträgt das Einkommen ihrer Familie weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens und/oder diese bezieht Transferleistungen nach den Sozialgesetzbüchern…“ Die gegen die Corona-Pandemie gerichtete Wirtschaftspolitik – ihr ist ein gesondertes Kapitel gewidmet – hat diesen Trend ersten Einschätzungen zufolge weiter verstärkt.
In einer durchschnittlichen Schulklasse mit 25 Schülerinnen und Schülern sitzen also etwa fünf Kinder oder Jugendliche, die sich durch ihre Kleidung, ihr Essen und durch das, was sie sich kaufen können, sichtbar von den anderen unterscheiden. Sie haben oft Probleme, denselben Freizeitbeschäftigungen wie die anderen nachzugehen und sind bei Klassenfahrten auf Zuschüsse oder Spenden angewiesen. Schüleraustausch oder Einladungen nach Hause verkneifen sie sich. Über größere Urlaubsreisen können sie nach den Ferien nichts erzählen. Ihre Eltern müssen sich selbst durchschnittliche Ausgaben für Kultur und Bildung ersparen. Nachhilfe oder Privatunterricht bei Schwierigkeiten ihrer Kinder in der Schule sind nicht bezahlbar. Deren Chance, auf ein Gymnasium zu kommen und eine Hochschule zu besuchen, ist signifikant – und überdurchschnittlich im internationalen Vergleich – geringer als bei Kindern mit höherem sozioökonomischem Status. Während letztere zu 75 Prozent ein Gymnasium besuchen, sind es bei ihnen nur 31 Prozent. Selbst bei gleicher schulischer Leistung, später sogar bei gleichem akademischem Niveau, sind ihre Aufstiegs- und Karrierechancen deutlich geringer.
Für diese Schüler und Schülerinnen gilt Brechts „…die im Dunkeln sieht man nicht“ keineswegs. Täglich werden sie mit diesen Unterschieden konfrontiert. Ich frage mich, was das mit ihrer Psyche und ihrem Selbstbewusstsein macht. Welche Prägung fürs Leben erfahren sie dadurch? Erfahren sie dadurch, dass sich Leistung lohnt? Dass man sich nur etwas leisten kann, wenn man etwas leistet, wie das Mantra unserer „Leistungsgesellschaft“ lautet? Aber vielleicht gibt es gar nicht nur fünf arme Kinder in der Klasse, sondern zehn oder fünfzehn. Längst hat ein Trend eingesetzt, bei dem die Kinder der wohlhabenden Schichten Schulen in anderen Wohnvierteln oder von anderem Zuschnitt als in den ärmeren oder „Problem“-Vierteln besuchen. Die soziale Segregation hat sich verfestigt. Die Gefühle jener fünfzehn Kinder, ihre Psyche und Lebenshaltung sind nun keineswegs weniger Gefährdungen ausgesetzt.
Die Auswirkungen von Ungleichheit, Ungerechtigkeit und sozialer Spaltung werden in beiden Fällen unterschiedliche Formen annehmen, sind aber gleichermaßen gefährlich für die Gesellschaft und deren gedeihliche Zukunft. Die Verstetigung und Vererbung von Armut schließt in manchen Fällen auch Demoralisierung, Asozialität, Frustrierung und Demotivation ein, was dem Vorurteil, Arme seien selbst an ihrer Lage schuld, Vorschub leistet; ein Aspekt, der von den Autoren leider kaum beleuchtet wird. Zur ganzen und bedenkenswerten Wahrheit gehört in diesem Zusammenhang auch, dass die AfD im prekären Milieu, dessen Angehörige sich seltener als andere überhaupt an Wahlen beteiligen, bei den Bundestagswahlen mit 28 Prozent ihre stärkste Zustimmung erhielt. Die Enttäuschung dieses Milieus über die etablierten Parteien ist offensichtlich. Auch die versteckte, vornehm und gebildet daher kommende Demoralisierung, Asozialität oder soziale Ignoranz auf der Seite mancher Reicher und ihrer Kinder (der erwähnte Sticker, sicher eine Ausnahme, klebte nicht an einem billigen Kleinwagen, sondern einem protzigen SUV) hätten genauer beleuchtet werden können.
Die Butterwegges haben die Kinderungleichheit minutiös nachgezeichnet und belegt. Ausführlich setzen sie sich mit ihren Ursachen auseinander und untersuchen jene Politik und deren jüngere Geschichte, die vermeintlich der Bekämpfung dieser Armut dient, aber nicht selten zu einem Kampf gegen die Armen wird. Jedes einzelne Feld der Sozial-, Familien-, der Gesundheits- und Bildungspolitik und auch scheinbar entfernte Gebiete wie die Arbeitsmarkt- oder Steuerpolitik werden danach seziert, was hinsichtlich der Armutsbekämpfung beabsichtigt oder auch nicht beabsichtigt war und was bewirkt oder nicht bewirkt wurde. Sie entwickeln eine Palette eigener Vorschläge und konstatieren zusammenfassend: „Man muss die Unterprivilegierten besser gegenüber Armutsrisiken abschotten, die Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg schützen und vom Reichtum der Oberschicht genug abschöpfen, damit der Sozialstaat seinen Aufgaben in Zukunft besser gewachsen ist.“ Sie stellen aber auch fest, dass es systemisch bedingte Ursachen der Kinderarmut gibt, die innerhalb des Systems nicht überwunden werden können. Und „wenn keine andere Maßnahme durchschlagenden Erfolg verspricht“, wären auch Sozialisierungen legitim. Schließlich gehe es um die Zukunft unserer Kinder.
Carolin Butterwegge / Christoph Butterwegge: Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt, Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York 2021, 303 Seiten, 22,95 Euro.
Schlagwörter: Carolin Butterwegge, Christoph Butterwegge, Jürgen Leibiger, Kinderarmut, Kinderungleichheit, soziale Spaltung