24. Jahrgang | Nummer 18 | 30. August 2021

Eine gemeinsame Antwort von Russland und China an den Westen

von Wilfried Schreiber

Am 28.06.2021 verlängerten die Präsidenten der Volksrepublik China und der russischen Föderation den im Juli 2001 abgeschlossenen Vertrag über Nachbarschaft, Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen diesen Ländern für weitere 20 Jahre. Das Ereignis erfolgte öffentlich in den Medien Russlands und Chinas ganz unspektakulär in Form einer Videokonferenz, bei der die beiden Präsidenten Xi und Putin kurze Ansprachen hielten. Zugleich wurde die Ratifizierung des Folgevertrags für Februar 2022 angekündigt. Die westlichen Medien haben von diesem Event kaum Notiz genommen.

Tatsächlich aber bedeuten die Vertragsverlängerung und die dabei gesetzten neuen Akzente einen Einschnitt für die weitere Gestaltung der geostrategischen Beziehungen – sowohl zwischen den beiden Vertragspartnern als auch für das Verhältnis zu den großen Rivalen. Das ergibt sich bereits aus den gewaltigen Dimensionen, die ein Vertrag zwischen Russland als dem flächengrößten und China als dem bevölkerungsreichsten Land der Erde objektiv hat. Die Vertragsseiten wollen den Umfang ihres Zusammenwirkens schrittweise ausweiten und ihm einen „wirklich strategischen Charakter“ geben.

Dabei orientiert die gemeinsame Erklärung zunächst vor allem auf zukunftsrelevante Bereiche der Kooperation bei der Entwicklung der Volkswirtschaften beider Länder. Die Hauptbereiche dieser Kooperation betreffen die Sektoren Energie, Verkehr, Infrastruktur und digitale Kommunikation. Besondere Aufmerksamkeit ist auf die technologische Entwicklung von Raumfahrt und Flugzeugbau sowie auf die Landwirtschaft gerichtet. Eigenständige Bedeutung erhält die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Finanzen. Zugleich soll eine engere „Kopplung der Eurasischen Wirtschaftsunion mit dem Ausbau der ‚Neuen Seidenstraße‘“ erfolgen. Insgesamt verfolgen China und Russland mit ihrer weiteren Vertragsausgestaltung die Absicht, das Modell eines neuen Typs zwischenstaatlicher Beziehungen zu kreieren.

Insofern soll die Aufmerksamkeit vorrangig auf die internationale Bedeutung gelenkt werden, die aus der neuen Qualität der russisch-chinesischen Zusammenarbeit erwächst. Daher sei hier besonders auf die konzeptionellen Aussagen der Gemeinsamen Erklärung für die Schaffung einer neuen Weltordnung verwiesen. Im Westen wird diese Debatte seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „Global Governance“ geführt. Die USA argumentieren dabei gezielt mit der Formel von der „regelbasierten Ordnung“, die als Maßstab für alle internationalen Beziehungen gelten müsse. Gemeint sind dabei Verhaltensnormen, die vorrangig den Interessen und Werten des Westens dienen bzw. auf die Sicherung der US-amerikanischen Führungsrolle abzielen. Insbesondere handelt es sich dabei um solche Kategorien und Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, die einseitig nach westlicher Auslegung interpretiert werden, ohne damit völkerrechtlich legitimiert zu sein.

China und Russland dagegen vertreten mit ihrer Gemeinsamen Erklärung eine multilaterale Weltordnung, die auf der Charta der Vereinten Nationen beruhen müsse. Letztlich weisen damit beide Länder die anmaßenden Vorstellungen der USA und des transatlantischen Westens zurück und fordern die Alleingültigkeit der von der UNO und dem Völkerrecht gesetzten Regeln ein. Zumindest so, wie sie von solchen Institutionen wie der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit, der ASEAN-Organisation oder der OSZE akzeptiert und auch praktiziert werden.

Die Gemeinsame Erklärung geht davon aus, dass es kein Zurück hinter die von der UN-Charta gesetzten Normen geben darf. Nur die darauf basierenden Regeln entsprechen den Grundsätzen der Gleichberechtigung und nationalen Souveränität, die gleichermaßen für alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gelten. Insofern kann der Weg in die Zukunft nur über eine solche Reform der Vereinten Nationen gehen, die zu ihrer Stärkung führt und nicht zu ihrer Schwächung oder Auflösung. De facto ist aber für die USA die Organisation der Vereinten Nationen der entscheidende Störfaktor zur Durchsetzung ihrer „regelbasierten Ordnung“ und wird auch dementsprechend von den USA behandelt.

Nach den Vorstellungen der US-Administration soll die neue Weltordnung von einer „Liga der Demokratien“ angeführt werden, die einer „Liga der Autokratien“ entgegensteht. Diese Vorstellung widerspiegelt das alte manichäische Weltbild des Westens, wonach die Welt in „Gute“ und die „Böse“ eingeteilt wird. Dabei versteht sich der Westen als Verkörperung des „Guten“ und als einzig akzeptablen Modells für die gesamte menschliche Zivilisation. Dieses Weltbild wird in der Gemeinsamen Erklärung von Russland und China dezidiert abgelehnt.

Zugleich versteht sich die Gemeinsame Erklärung als ein Angebot bzw. als eine Einladung an den transatlantischen Westen zur Führung eines strategischen Dialogs über die Zukunft der Erde. Dabei gehen Russland und China davon aus, dass in der Welt von heute vor allem den Kernwaffenstaaten eine besondere Verantwortung zukomme. Die Gemeinsame Erklärung wendet sich daher direkt an die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und mahnt sie, als führende Kernwaffenmächte dieser Verantwortung gerecht zu werden. Sie schlägt dazu ein Gipfeltreffen der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates vor.

China und Russland wollen mit der Vertiefung ihrer zwischenstaatlichen Beziehungen selbst ein Beispiel für die neue Weltordnung des Rechts und des Multilateralismus geben. Sie artikulieren daher in der Gemeinsamen Erklärung ein solches Selbstverständnis des Handelns, das besänftigend auf die Hauptkonflikte unserer Zeit einwirken soll. Insbesondere wird dabei auf gemeinsame Aktivitäten zur Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität in Asien sowie im Nahen und Mittlere Osten verwiesen.

Was lässt sich als vorläufiges Resümee aus den neuen Dimensionen der Beziehungen zwischen Russland und China schließen?

  • Die „regelbasierte Ordnung“ des “Westens“ wird von Russland und China zur Gestaltung einer multilateralen Weltordnung des Rechts nicht akzeptiert.
  • Die Weltordnung der unangefochtenen Hegemonie der USA ist infrage gestellt.
  • Der Schwerpunkt der geostrategischen Aktivitäten hat sich nach Asien verlagert, insbesondere in den indopazifischen Raum.
  • Russland und Chinas haben sich unter dem Sanktionsdruck des transatlantischen Westens enger zusammengeschlossen und treten dem Westen selbstbewusster und als enge Verbündete entgegen.
  • Ein neues geostrategischen Kräfteverhältnis ist insbesondere durch den Aufstieg Chinas Realität. De facto hat China die USA im Umfang des bereinigten BIP eingeholt. Die reale Wirtschaftsdynamik Chinas verweist auf ein Potential, dass auch der noch bestehende technologische Rückstand zu den USA aufgeholt werden kann.
  • Mit einem Umfang seiner Einwohner von ca. 1,4 Milliarden Menschen hat China einen Anteil von etwa 17,5 % an der Weltbevölkerung. Damit verfügt China allein über ein Menschenpotential, das deutlich über dem des gesamten transatlantischen Westens liegt, dessen Anteil mit ca. 900 Millionen etwa 11% beträgt. Der Westen ist eine Minderheitsgesellschaft, die an Autorität verloren hat.
  • Die alten geostrategischen Machtverhältnisse lassen sich weder militärisch zurückbomben noch wirtschaftlich zurücksanktionieren.

Angesichts der Komplexität der Gesamtproblematik dieser Welt sind pragmatische und realpolitische Lösungen gefragt. Dabei sind viele Entwicklungen nicht exakt absehbar. Manche Fragen müssen heute noch offenbleiben:

  • Wohin und wie schnell entwickelt sich Indien, das ebenfalls über ein Bevölkerungspotential von annähernd 1,4 Milliarden Menschen verfügt?
  • Kann sich und will sich Russland mit chinesischer Hilfe von seinen ökonomischen Schwächen befreien? Kann Russland seine politische Stagnation überwinden?
  • Wird die Europäische Union einen vermittelnden Platz in der zunehmenden Konfrontation zwischen den Großmächten einnehmen können oder bleibt sie ein Vasall der USA beziehungsweise zerfällt wieder in Einzelstaaten?

Entscheidend für die Zukunft Europas dürfte sein, ob sich die Europäische Union in erster Linie selbst als eigenständiger geopolitischer Player und Rivale oder vorrangig als Mittler zwischen den großen Kontrahenten versteht. Die Chance der Europäischen Union, in diesem Wettbewerb zu bestehen, ist nicht die Konfrontation sondern die weltweite Kooperation. Das umso mehr, als sich die großen Lebensfragen dieser Welt – wie zunehmende Differenzierung zwischen arm und reich auf nationaler und internationaler Ebene, Klimastabilisierung, Ressourcenverbrauch, Weltgesundheit und Welternährung sowie die Ungleichmäßigkeit der demografischen Entwicklung – nur durch internationale Zusammenarbeit auf Basis der Gleichberechtigung lösen lassen. Das aber setzt voraus, dass der transatlantische Westen insgesamt seinen neokolonialistischen Anspruch aufgibt, einzig akzeptables Zivilisationsmodell für die Menschheit zu sein. Da das aber auf absehbare Zeit wenig wahrscheinlich ist, bleibt noch unklar, welche Rolle die EU in der Welt von morgen spielen wird.