24. Jahrgang | Nummer 18 | 30. August 2021

Das „neue Sehen“ der russischen Impressionisten

von Klaus Hammer

Es war Ilja Repin, berühmt durch seine monumentalen Menschenbilder wie „Die Wolgatreidler“ (1872/1873), der an allen Kunstströmungen im Russland des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts teilgenommen hat. Während seines Studienaufenthalts in Paris 1875 hatte er sich noch schockiert über den dortigen jungen Impressionismus geäußert. Ein Jahr später, inzwischen wieder in seine Heimat zurückgekehrt, bekannte er sich zu ihm. Er sollte sich in den privaten Landschaftsdarstellungen, auch in den Porträts seiner Töchter impressionistischer Gestaltungsmittel bedienen, während er in den repräsentativen, offiziellen Werken weiter an einem symbolistischen Realismus festhielt. Wassili Polenow eröffnete 1873 ein Atelier in Paris, schloss Freundschaft mit Repin und lehrte später an der Moskauer Kunsthochschule, wo Isaak Lewitan, Konstantin Korowin, Alexander Golowin und Abraham Archipow seine – impressionistischen – Schüler wurden. Aber Korowin war der wohl konsequenteste russische Impressionist geworden; immer wieder hielt er sich in Paris auf und 1923/24 emigrierte er auf Dauer dorthin. Im ersten Jahrzehnt schuf er seinen Zyklus „Pariser Lichter“, virtuose Darstellungen der lichterfüllten Pariser Boulevards und Cafés mit dem Effekt einer spannungsgeladenen Vibration. Isaak Lewitan sah auf der Weltausstellung 1899 in Paris die Landschaften der Impressionisten und übernahm von ihnen die Wirkung der Farbflecken auf der Leinwand und die Macht des lebendigen Pinselstrichs. Er fertigte in der Dämmerung oder im milden Herbstlicht zahlreiche Landschaftsstudien an und eiferte sogar Monet mit seinen „Heuhaufen“ (1899) nach, wo die Landschaft im Licht der untergehenden Sonne mit dem Abendnebel verschmilzt. Sein letztes Werk „Ein sonniger Tag. Am Teich“ ist eine heiter-ruhige Schilderung eines blauen, von den Schatten vorbeiziehender Wolken umgebenen Sees.

Nun malten viele in Russland en plein air und wollten den Moment festhalten, der sich immer wieder von neuem vollzieht. Aus dem Licht entwickelten sie ihre neue Kunst. Doch Szenen städtischen Lebens gab es bei den russischen Impressionisten nur dann, wenn sie die Pariser Cafés und Boulevards malten, während sie Genreszenen, Portraits und vor allem Landschaften mit gestisch-spontanem Pinselstrich und in lichtdurchfluteter Atmosphäre in ihrer russischen Umwelt ansiedelten. Für die meisten russischen Künstler war der Impressionismus nur eine Durchgangsphase; sie experimentierten mit dem Impressionismus, dem Postimpressionismus, dem Fauvismus. Selbst solche Avantgardisten wie Michail Larionow, Natalja Gontscharowa oder Kasimir Malewitsch durchliefen eine impressionistische Phase, um ihre malerischen Mittel zu erproben und dann in den expressiven Rayonismus, den Kubofuturismus – hier wird das gegenständliche Motiv in zylindrische Formelemente zerlegt – und den ungegenständlichen Suprematismus überzugehen. Und am erstaunlichsten ist wohl der Weg, den Malewitsch nahm: von dem impressionistischen Spiel der flirrenden Lichtreflexe („Landschaft mit gelbem Haus“, um 1906) über „Konstruktion in Auflösung (Drei Bögen auf diagonalem Element in Weiß),“ (1917) – hier dienten transzendente Formen als Verabsolutierung von Licht und Raum – zum berühmten schwarzen Quadrat auf quadratischer weißer Fläche als Symbol einer gegenstandslosen Wirklichkeit, in der energetische Kräfte walten.

Der hierzulande noch weitgehend unbekannte russische Impressionismus bietet also genug Überraschungen, Entdeckungen und Erkenntnisse, und nicht von ungefähr ist es gerade das Museum Barberini in Potsdam, das zusammen mit dem Museum Frieder Burda, Baden-Baden, diese impressionistische Lichtmalerei nun erstmals in Deutschland in einer umfassenden Schau vorstellt, ist es doch durch seine einzigartige Sammlung und seine bisherigen Impressionismus-Ausstellungen zu einem Impressionismus-Zentrum in Deutschland geworden. So war es für dieses Museum schon eine besondere Verpflichtung, Leihgaben aus Russland, Europa und Übersee – mehr als 80 Gemälde – zusammenzutragen, die demonstrieren sollen, wie die russischen Impressionisten den Anschluss an die westeuropäische Moderne gefunden haben, wie sie zu internationalem Rang aufgestiegen sind.

Repins berühmtes Bild „Tolstoi bei der Rast im Wald“ (1891), auf dem die Sonnenflecken des Lichts zu tanzen scheinen, kann zwar nicht gezeigt werden, wohl aber „Auf dem Feldweg. Wera Repina mit ihren Kindern“ (1879), in heiterer Sommerlandschaft, wobei Repin den Momenten des Lichts nachgeht, dem optischen Reiz der Oberfläche seine Aufmerksamkeit widmet. Schon in „Pariser Café“ (1874/75) gab er eine Charakterstudie des Pariser Café-Publikums mit Flaneuren, Bonvivants, Halbweltdamen, aber auch genau zu identifizierenden Schauspielerinnen, Schriftstellern, Künstlern und Kritikern in leicht ironischer Selbstinszenierung.

Paris hat aber viele Gesichter. Man denkt unwillkürlich an die Worte von Paul Verlaine: „Der Himmel über der Stadt weint, weint und mein Herz“, wenn man Nicolas Tarkhoffs Paris im strömenden Regen („Eine Straße im Pariser Vorort Saint-Martin“, 1901) betrachtet. Eine vibrierende Atmosphäre löst die Konturen auf und nimmt den gegenständlichen Formen ihre Festigkeit.

Konstantin Korowin hat nicht nur in seinen „Paris-bei-Nacht“-Bildern, sondern auch in seinen Landschaften mit breitem Pinselstrich und leuchtenden Farben einen überlegenen skizzenhaften Stil entwickelt. „Im Sommer. Flieder“ (1895) und „Unter Birken“ (1904) – ein faszinierendes Spiel von Licht und Schatten, in unterschiedlichen Farben schimmert das Licht durch das Geäst der Bäume.

Anfangs hatte man Walentin Serow als Landschaftsmaler angesehen, doch dann wurde er der führende Porträtist seines Landes. Es gibt kaum eine bekannte Persönlichkeit aus dieser Zeit, die ihm nicht Modell gesessen hätte. Er war den Impressionisten, Degas, Toulouse-Lautrec und den Nabis durch seine lebendige, aber feine und zarte Verwendung der Farben verpflichtet. „Das Mädchen mit Pfirsichen“ (1887), aber auch „Das Mädchen im Sonnenlicht“ (1888) sind psychologische Portraits, bezeugen aber zugleich ganz die lockere, den Moment beschreibende Malweise des Impressionismus – reich an hellen Farben und Lichtreflexen.

Während Serow sich bald dem Jugendstil und dem Symbolismus zuwandte, gaben andere dem Impressionismus ihre russische Prägung, so nach Korowin auch Lewitan und Grabar. Lewitan schuf weiträumige Landschaftsbilder, die er naturreligiös empfand, Darstellungen des flirrenden Lichts in Birkenhainen. Dafür ordnet er die Farbklänge großflächig und arbeitet mit feinen Abstufungen. Er lehnte den Impressionismus von Monet ab und verband die vorimpressionistische, lyrische Naturauffassung mit dem symbolisch-neuromantischen Nachimpressionismus. In „Frühling auf der Krim“ (1900) beeindruckt die Empfindlichkeit für Lichtphänomene und die Befreiung der reichen, starken Farben.

Motive in wechselndem Licht geben die Interieurs Serows, Korowins, Sergei Winogradows, Stanislaw Shukowskis: Licht, das den Innenraum erleuchtet, Licht, das durch die Fensterblicke in den Raum dringt. Unendlich variierbare Lichtwirkungen zeigen einen Raum bei verschiedenen Tageszeiten und unterschiedlichem Wetter, mit Figuren in einer spezifisch seelischen Verfassung.

In Wiktor Mussatows Bildern mit ihren ausgedehnten matten Farbflächen, dem oft nebeligen Blau, Rosa oder Grün oder der farbfrei belassenen Leinwand, beschreiben die Körper der Frauen matte Arabesken. „Am Weiher“ (1912) wird zu einem Spiegel, der die Gefühle des Künstlers reflektiert, der an die erlösende Macht der Frauen glaubte. Bei Igor Grabar treten wie aus dem halbtransparenten Dunst eines Sommertages die Figuren hervor („Unter Birken“, 1904). Grabar wandte sich der Technik des Pointillismus zu, in der in Russland noch niemand gemalt hatte. Während Lewitan in „März“ (1895) der Pleinairmalerei folgt, die Natur in leuchtenden Farben erfasst und die Konturen in Strömen von Licht auflöst, zeigt Grabar in „Märzschnee“ (1904) eine von Raureif bedeckte Landschaft, in der die verschiedenen Weißtöne von langgezogenen Strichen in blauen, lilafarbenen und gelben Farbtönen durchzogen werden –, sie muten wie die Schatten der Sträucher an – und den Eindruck vibrierender Luft hinterlassen.

Nikolai Meschtscherin geht dann zur Abstrahierung der Realität durch Farbe über. In seiner „Mondnacht“ (1905) taucht das Mondlicht die kaum erahnbare Szenerie in ein Mosaik von nebeneinandergesetzten Pinselstrichen in Rosa-, Violett-, Grün- und Blautönen. Bis an die Grenze des Gegenständlichen gehen auch Michail Larionow und Natalja Gontscharowa, die dann beide ab 1918 in Paris lebten. Larionows „Flieder“ (1904/05): Ein wahrer Blütenschauer ergießt sich über das Bild. Natalja Gontscharowa erprobt in „Fluss. Sonnenuntergang“ und „Landschaft“ (beide 1907/08) den Pointillismus. Beide leiten ihre farbintensiven Bilder aus der Strahlkraft des Lichts ab, Sinnliches und Geistiges, Aktion und Interaktion sollen hier zusammenkommen. Gontscharowa gelangte dann zu Bildgestaltungen, in denen die Strahlenwirkung des Lichts und eine kubistische Aufsplitterung des Gegenständlichen eine besondere Rolle spielen.

Der russische Impressionismus – das „neue Sehen“, die Kunst des genauen Hinsehens – soll statt der Heiterkeit und Lebensfreude der Franzosen der verhaltenen Melancholie der „russischen Seele“ Ausdruck verleihen.

Impressionismus in Russland. Aufbruch zur Avantgarde, Museum Barberini, Potsdam, täglich außer dienstags 10–19 Uhr, erster Donnerstag im Monat 10–21 Uhr; bis 9. Januar 2022, Katalog (Prestel Verlag München) 25,00 Euro.