Der überraschend schnelle Fall von Kabul hat in Polen die aufgeladene innenpolitische Debatte für einige Tage verstummen lassen. Die Rückkehr der Taliban an die Machthebel Afghanistans war insofern von herausragendem Interesse, weil das Land zum ersten Mal seit 1990 ein wenig das Gefühl auskosten durfte, doch der Verliererseite anzugehören. Unumwunden wird von der Niederlage des Westens gesprochen, davon, dass nach den Engländern und Russen nun auch die Amerikaner sich am Hindukusch die Zähne ausgebissen hätten.
Doch ungerne wird betont, wie entschlossen und zuversichtlich Polens Regierende an der Seite der USA einst in den Kampf gezogen waren. Im Unterschied zur Diskussion in Deutschland wurde der Charakter des militärischen Kampfeinsatzes im öffentlichen Bild übrigens nie verwässert mit dem moralisch aufgeladenen Hinweis auf die hehren Ziele, wonach im Schutze der militärischen Besetzung in dem fremden Lande so etwas wie westliche Demokratie eingepflanzt werden könne. Im Vordergrund stand immer die Sicht auf den militärischen Einsatz als einer vorgeschobenen Speerspitze gegen die vielbeschworene Islamismus-Gefahr. Entsprechend gibt es jetzt weder die anderswo üblichen Krokodilstränen noch den scharfen gegenseitigen Vorwurf.
Polens NATO-Mitgliedschaft ist in der Öffentlichkeit seit jeher hoch angesehen, lediglich im Rechtsaußen gibt es krakeelende Stimmen, die das Bündnis als einen nicht hinzunehmenden Eingriff gegen die nationale Souveränität attackieren. Ansonsten ist die weitreichende Einigkeit in dieser Frage unübersehbar. Und die meisten begreifen den Beitritt von 1999 ohnehin vor allem als einen strategischen Bündnisvertrag mit den USA – ohne Wenn und Aber. Daran wird sich auch jetzt nichts ändern. Unisono wird aber in allen Lagern kritisch festgehalten, dass künftig militärische Mission und politisch aufgeladener Auftrag schärfer zu trennen seien. Es ist natürlich nur logisch, dass in anderen Ländern, in denen den eingesetzten Militärs dann schnell ganze Heerscharen von selbstüberzeugten Demokratieentwicklern und gutmeinenden Brunnenbohrern folgen, in der Öffentlichkeit schnell der Eindruck vorherrschen konnte, so als werde dort allein noch um Weltverbesserung gerungen und manchmal auch gekämpft. Solcher Illusion gab sich in Polen niemand hin.
Allerdings bezweifelt jetzt auch niemand, dass die gespenstisch anmutende Herrschaft der Taliban-Krieger auch diesmal nicht bergend, sondern verschlingend sein werde. Doch das sei nun eben in erster Linie Sache der Menschen in Afghanistan selbst. Von außen könne dort nur noch wenig ausgerichtet werden, denn eine militärische Rückkehr des Westens, um die schlimme innere Entwicklung dort aufzuhalten, sei wohl völlig ausgeschlossen. Insofern überrascht es nicht, dass sich prominente Politiker zurückhalten mit öffentlichen Äußerungen zu den aktuellen Entwicklungen in Afghanistan. Den Vorzug haben eindeutig die nüchternen Stimmen derjenigen, die wenigstens halbwegs sich auskennen mit den schwierig zu durchdringenden Verhältnissen im Land der entlegenen Schluchten und Berggipfel.
Deshalb sei auch hier nun für den deutschen Leser eine solche Stimme angeführt, der an Klarheit und Aussagekraft kaum etwas fehlt, die zudem den Vorteil hat, ungefähr die Mitte anzuzeigen, um die herum die seriöse Diskussion sich rankt. Piotr Łukasiewicz war einige Jahre lang in hoher Stellung mitverantwortlich für Polens Militäreinsatz in Afghanistan, war schließlich von 2012 bis 2014 Polens letzter Afghanistan-Botschafter, bevor die Dienststelle aus finanziellen Gründen aufgebeben wurde.
In der liberalen Wochenzeitung Polityka schrieb er nun: „Der Westen ist in Afghanistan in mehrfacher Hinsicht zum Ausgangspunkt zurückgekehrt. […] Allerdings hat sich etwas verändert. Die afghanischen Parteien führen seit 1979 Bürgerkrieg. Doch die aktuelle Machtübernahme durch die Taliban scheint völlig unafghanisch zu sein, ohne Dramatik und ohne die Schrecklichkeit vorhergehender Kämpfe. Es gibt keine blutige Rache, obwohl beide Seiten vor einem Jahr noch ohne jegliche Rücksichtnahme sich gegenseitig töteten. […] Dr. Abdullah und Karzaj haben in der Taliban-Vertretung in Doha in Katar seit 2015 aller zwei Wochen vorgesprochen, sich auf die nachamerikanische Situation vorbereitet. Jetzt sind sie in Kabul geblieben, obwohl sie sich um ihre Sicherheit gesorgt haben sollten. Die Tatsache, dass solch gerissene Politiker nun entschieden, in der Hauptstadt zu bleiben, gibt zu denken. Vielleicht wurde dieser ganze Blitzkrieg, dieses rasche Verschwinden der Regierungsseite zuvor ausgehandelt? Die bisherigen Eliten wollen natürlich ihren Besitzstand wahren. Die neue Taliban-Elite braucht keinen Reichtum, jetzt zumindest noch nicht. Doch sie brauchen internationale Anerkennung und Unterstützung bei der Verwaltung Afghanistans, das sich heute nicht mehr regieren lässt ohne ausländisches Geld. Beide Seiten sind auf gewisse Art aufeinander angewiesen. Karsaj und Abdullah besitzen die internationale Legitimation, die Taliban die innere Kraft und die Unterstützung eines Teils der afghanischen Bevölkerung. Womöglich war der afghanische Blitzkrieg zu einem gewissen Grade nur Theater.“
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