24. Jahrgang | Nummer 18 | 30. August 2021

„… mitzudenken mit den Gebirgen und Meeren“

von Ulrich Kaufmann

Zum 82. Geburtstag Volker Brauns erschien der in Schwarz gehaltene Band „Große Fuge“. Auf dem Cover sieht man eine raffinierte zweifarbige Radierung von Helge Leiberg. Vermeintlich zeigt sie einen resignierten Alten. Erst ein zweiter Blick ermöglicht es, zugleich eine sich grazil bewegende junge Tänzerin zu erkennen. Das schmale, dreigeteilte Werk im Großformat enthält 21 Texte. Es setzt mit dem Prosastück „Wachtraum“ ein. Auf die Genrebezeichnung „Gedichte“ hat Braun hier verzichtet.

Mit dem Titel „Große Fuge“ spielt der Dichter auf Beethovens spätes Streichquartett in B-Dur op. 130 von 1826 an, das seinerzeit Virtuosen und Kritiker überforderte. Brauns späte Texte sind – wie stets – keine leichte Kost. Der Poet liefert zwar „Anmerkungen“, diese fordern dem Leser weitere Anstrengungen ab.

Ein Großteil der Texte entstand während der Corona-Pandemie. Diese „Pest“ bot dem Dichter Anlass, erneut über Demokratie, Umwelt, die Aufgaben der Kunst, Gesundheit und vieles mehr nachzudenken. Auch um die eigene Vergänglichkeit geht es, um den Körper, der es gewohnt ist, nicht ausreichend „gewartet“ zu werden.

Gleich zu Beginn thematisiert Braun nicht weniger als den Fortbestand der Menschheit. Der zweite Text NACH UNSERER ZEIT lässt sich in seiner Düsternis kaum überbieten:

EINE WEISSE YACHT DER MAST GEBROCHEN BEWE-
GUNGSUNFÄHIG VOR MINDANAO DÜMPELND EIN
KÖRPER FAHL UND BRÜCHIG WIE DRECKIGER
FEUCHTER SAND ZUSAMMENGESUNKEN AM TISCH
NUR NOCH IN FORM UND HALTUNG EINEM MEN-
SCHEN ÄHNLICH

So sehe ich die Menschheit treiben
In ihrem Fahrzeug Nach ihrer Zeit
Totenstille Ein Geist ist an Bord

Seinem neuen Werk gibt Braun einen doppelten Rahmen: Am Schluss ist erneut vom Tode die Rede. Geschildert wird eine „Geisterstunde“ auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. „Wir gerade noch atmend haben sie alle zu Grabe getragen / Und erwarten ein Gleiches. Seghers mit militärischen Ehren / Abgefertigt, das Volk verbannt an die Pforte.“

Bei diesem Begängnis im Juni 2017 fanden Gespräche zwischen lebende Autoren und ihren verstorbenen Kollegen statt: Laabs mit Hilbig, Teschke mit Arendt, Völker mit (Heinrich) Mann, „den tot Hergebrachten“, Gröschner mit Arnold Zweig, Tragelehn mit Brecht …

Ein Gespräch über Bäume hat sich der Exilant Brecht verboten, solange es vonnöten war, das Hitler-Regime zu bekämpfen. Für etliche Poeten in der Endphase der DDR wurde dieses Gespräch ein vordringliches Thema. Es galt als „Verbrechen“, nun nicht über Bäume zu sprechen. Braun erinnert einen Besuch in Hiroshima. Seine Rückschau treibt das Thema gewissermaßen an einen Endpunkt. „Ein Alter“, „angewurzelt“ stehend, erklärt in dem Text SECHSTER KREIS dem lyrischen Sprecher die Welt. Dieser sieht „einen Mast, er war ein Baum / Und ist es noch Und nur er überlebte / Von seiner Art, d.h. allein der Stamm / Die Äste alle weggeloht von solcher / Glut die Menschen schmilzt. Und: frage ich / Woher aber das Grün? – Die Blätter nämlich / Sprossen aus der schwarzen Rinde.“ Dies sei „der Baum unserer Erkenntnis“, sagt der Alte, „dessen Ohren auch vom Stamm gehaun warn.“

Wie eine Fuge ist Brauns neuer Band gebaut: polyphone Mehrstimmigkeit und zeitversetzte Wiederholung eines Themas. WINDBÜRGER heißt ein reimloser, freirhythmischer Text. In der „brandenburgischen Steppe“ begegnen uns „windige Leute“. Ein „Landmann… arbeitet, ohne sein Zutun, / ein Zubrot, das im Wind wächst.“

„Werktätige starren“ auf die „leeren höhnischen Hallen“, lesen wir in der zweiten Versgruppe.

Der „Plan“ (bei der Zerstörung der Natur ?) „war erfüllt / Vorfristig im Osten“. Anschließend ist von einem „Mann unter Bäumen“ die Rede. „Jetzt tappt er gott- / Verlassen im Asphalt umher, und wo sind die Vögel? / Und nicht Mutter Natur hält ihn“

Zum Schluss sieht der Dichter erneut die gewaltigen Gefahren, vor denen die Menschheit steht:

„Nur einen Sommer haben wir noch vor es Winter wird. / Ihr Ölbäume Kretas, dreitausendjährig, ihr mächtigen / Gletscher. Sieh das Übrige an, die holozänen Bestände“ Das Schlusswort überlässt Volker Braun einer „Hoffnungsträgerin, Artgenossin“: „Wie könnt ihr es wagen“–

Das Bändchen enthält zudem einige lyrische Porträts: Über den Maler Tübke, über Bahro, den „Aussätzigen“, über den Todeskampf seines früh verstorbenen Neffen. Die Rede ist ebenso von dem ungarischen Schriftsteller Imre Kertész, der in Buchenwald „wohnte“: „Bei Beethoven kündigt sich / Die Katastrophe an, in der Gebrochenheit der Fugen…“

Volker Braun: Große Fuge, Suhrkamp, Berlin 2021, 55 Seiten, 16,00 Euro.