24. Jahrgang | Nummer 15 | 19. Juli 2021

Fünf Millionen Dollar für den WWW-Programm-Code

von Jürgen Leibiger

Mehr als das Gold hat das Blei die Welt verändert und mehr als das Blei in der Flinte das Blei im Setzkasten“ geht ein Aphorismus Georg Christoph Lichtenbergs aus dem achtzehnten Jahrhundert. Geld und Schusswaffen haben die Welt wahrlich verändert, aber Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks steht ihnen in nichts nach. Sie revolutionierte die Kommunikationstechnik und die preiswerte Verbreitung gedruckter Ideen revolutionierte auch die Gesellschaft. Die Versteigerung eines seltenen Erstdrucks der Bibel aus Gutenbergs Druckerei erbrachte auf einer Auktion zuletzt 4,6 Millionen Euro.

Fast den gleichen Betrag erzielte der originale Programm-Code des World Wide Web, den sein Erfinder, der britische Informatiker Sir Tim Berners-Lee, jetzt bei Sotheby’s versteigern ließ. Moderne Kryptoverfahren erlauben es, das wirklich aus seinen persönlichen Dateien stammende Original von den x-fach existierenden digitalen Kopien zu unterscheiden. Seine Idee, die er 1989 als Angestellter des europäischen Kernforschungszentrums CERN in Genf entwickelt und veröffentlicht hatte, revolutionierte die Welt nicht weniger als der Buchdruck. Gutenbergs Erfindung brauchte 30 Jahre, bis sie durch seine Nachahmer in ganz Europa Verbreitung fand und ihre Nutzung war dann immer noch auf eine kleine Elite beschränkt. Das World Wide Web schaffte es in einer gleichen Zeitspanne, den gesamten Globus zu erobern und wird von den Eliten in den großen reichen Metropolen dieser Welt genauso genutzt wie von den Bewohnern entlegenster Siedlungen. Längst flitzen bei den Massai in Ostafrika nicht mehr nur die legendären Dauerläufer von Dorf zu Dorf, auch Smartphone, Internet und World Wide Web werden für Kommunikation und Informationsbeschaffung genutzt.

Gutenberg startete als kleiner Handwerker und Unternehmer, der seine Versuche und seine Druckerei mit geliehenem Geld betrieb und dann einen finanziell betuchten Partner ins Geschäft nehmen musste; ein typisch frühkapitalistischer Unternehmererfinder also. Seine Idee konnte jeder kostenlos nutzen und als Gutenberg mit der wachsenden Konkurrenz seine Druckerei verlor, war er an seinem Lebensabend auf gnädige Gaben des Mainzer Erzbischofs angewiesen. Das World Wide Web und seine technischen Grundlagen, ohne die es nicht existieren würde – Computer, Mikroelektronik und Internet – wurden in staatlichen Forschungseinrichtungen erfunden. Ihre Schöpfer waren genauso findig wie der Mainzer Tüftler, aber sie stützten sich auf öffentliche Aufträge, Geld und Ressourcen. Die moderne Rechentechnik und das Internet basierten zudem auf der Rüstungsforschung, zuerst im Zweiten Weltkrieg und später im Kalten Krieg. Übrigens war auch die geniale Erfindung eines anderen deutschen Kommunikationstechnikers auf militärische Zwecke gerichtet. Leutnant Werner von Siemens präsentierte seinen elektrischen Zeigertelegrafen 1847 zuerst der Telegrafenkommission des preußischen Militärs. Seine Apparatur ersetzte die vom Großen Generalstab betriebenen optischen Telegrafenverbindungen. Zu deren Finanzierung konnten diese auch privat genutzt werden. Aber dies nur nebenbei.

Während andere Erfinder und Unternehmer des Informationszeitalters wie Bill Gates, Mark Zuckerberg, Jeff Bezos, Larry Page oder Tim Cook, die auf diesen in öffentlichen Einrichtungen erzielten Forschungsergebnissen aufbauten, mit ihren global agierenden Monopolunternehmen steinreich wurden und die moderne Kommunikationsinfrastruktur weitgehend einer privaten Herrschaft unterworfen haben, blieb Tim Berners-Lee im Wissenschaftsbetrieb und der Idee einer demokratischen Nutzung seiner Technologie verbunden. Er hatte  nicht versucht, sein Programm, das er ursprünglich nur zur Vereinfachung des internetbasierten Informationsaustauschs zwischen den Wissenschaftlern des CERN geschrieben hatte, rechtlich zu schützen oder privat zu verwerten. Er taufte es world wide web und stellte es der Öffentlichkeit frei zur Verfügung, also auch frei für jegliche kommerzielle und missbräuchliche Nutzung. Heute steht er mehr als kritisch zu dem, was aus seinem World Wide Web geworden ist. Bitter konstatiert er, es habe sich zu einem „Monster“ entwickelt.

Er macht sich seit langem Sorgen um das Schicksal des WWW und hat sich aktiv für eine Rückkehr zu seinen ursprünglichen Absichten eingesetzt. Schon vor Jahren warnte er davor, dass seine Idee eines offenen, gemeinnützigen Zwecken unterworfenen Netzes von Regierungen und Geheimdiensten missbraucht werde und stellte sich demonstrativ an die Seite des US-amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden, als dieser 2013 die illegalen Machenschaften von US-Geheimdiensten offenlegte und emigrieren musste. „Wenn wir kein offenes, neutrales Internet haben, auf das wir uns verlassen können, ohne uns Sorgen machen zu müssen, was an der Hintertür passiert, kann es auch keine freie Regierungsform, ordentliche Demokratie, vernünftiges Gesundheitswesen, verknüpfte Gemeinschaften und kulturelle Vielfalt geben.“ Haben wir ein „offenes und neutrales“ Netz? Nein? Dann müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen! Das betreffe nicht nur staatliche Aktivitäten, sondern auch die weitgehend profitorientierte Nutzung durch riesige Technologiekonzerne. „Bei allem Guten, was wir erreicht haben, hat sich das Web zu einem Motor der Ungerechtigkeit und Spaltung entwickelt, beeinflusst von mächtigen Kräften, die es für ihre eigenen Zwecke nutzen“, schrieb Berners-Lee.

Diesen Entwicklungen setzt er seine Bemühungen um ein freies und demokratiefreundliches Internet entgegen und plädierte schon vor Jahren für eine Magna Charta des Internetzeitalters, die solche Zielstellungen weltweit und verbindlich regeln soll. Auch seine Forschungsaktivitäten hat er darauf ausgerichtet. Mit dem von ihm entwickelten Open-Source-Projekt Solid (social linked data) will er die Dominanz der Internet-Konzerne angreifen und den Nutzern die Hoheit über ihre Daten zurückgeben. Der Versuch ist aller Ehren wert. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die Macht der Technokonzerne mit technologischen Mitteln, die ihnen selbst – wie der Web-Code ja auch – zugänglich sind, gebrochen werden kann. Der Netzwerkeffekt führt dazu, dass potenzielle Nutzer von Kommunikationsnetzen oder Plattformen sich dorthin wenden, wo es schon viele Nutzer gibt. Die Tendenz zur Monopolisierung hat hier eine technologische Grundlage. Man muss sich nicht wundern, wenn zum Beispiel Google die Entwicklung der freien LINUX-Software tatkräftig unterstützt.

Berners-Lee hat viele finanziell gut ausgestattete Auszeichnungen erhalten, die seinen Forschungen zugutekommen. Den Turing-Preis – benannt nach dem britischen Informatikpionier Alan Turing und als der Nobelpreis für Informatik geltend – erhielt er 2017. Er ist mit einer Million US-Dollar dotiert, die regelmäßig von Google gespendet werden. Ein Witz, dass sich ausgerechnet dieser Konzern formal für Berners-Lee Magna Charta ausgesprochen hat. Aber dem ist es vielleicht egal, dass die Daten-Krake Google den Preis sponsert. Genau wie den Versteigerungserlös des Originals seines Programm-Codes, den er für gemeinnützige Zwecken verwenden will, hat er das Geld in seinen Kampf gegen die „Monster“ des Netzes investiert.