Für die Linken schien nach dem Ersten Weltkrieg und seinen verheerenden Folgen ein unmittelbarer Zusammenhang von Kapitalismus, Krise und Krieg zu bestehen. Karl Ballod identifizierte in der Nachkriegsausgabe seines Buches „Der Zukunftsstaat“ den Weltkrieg mit der Krise: „Bürgerliche Nationalökonomen wiesen mit besonderem Stolz darauf hin, dass die Wirtschaftskrisen nicht, wie Marx es erwartet hätte, immer schlimmer geworden wären, sondern dass sie im Gegenteil sich immer mehr abgeschwächt hätten. Ja doch – bis die aufgespeicherten, zur Krisis hindrängenden Kräfte sich in der furchtbarsten Krisis der Weltgeschichte, in dem Weltkrieg, Luft machten, der doch gerade von den bürgerlichen Nationalökonomen als ein Wirtschaftskrieg im eigentlichen Sinne des Wortes hingestellt wird, und der weit, weit mehr Werte vernichtet hat als alle vorangehenden Wirtschaftskrisen.“ Seine Folgerung war: der Weltkrieg als Weltkrise zeige, der Kapitalismus ist an sein Ende gekommen, jetzt rückt der Sozialismus auf die Tagesordnung.
Die Analyse aus kommunistischer Sicht – so Bucharin und Preobraschensky in ihrem „ABC des Kommunismus“ von 1921 – ging ebenfalls davon aus, dass dem kapitalistischen Privateigentum Konkurrenz entspringe und diese in Imperialismus und Krieg münde. „Der imperialistischen Politik, die die ‚Großmächte‘ führten, musste früher oder später der Zusammenstoß folgen. Es ist ganz klar, dass diese räuberische Politik aller ‚Großmächte‘ die Kriegsursache war.“ Dieser Krieg „musste ein Weltkrieg werden“, weil alle Mächte „miteinander durch die gemeinsame Weltwirtschaft verbunden“ waren. So war Konsequenz die Alternative: „Allgemeine Auflösung oder Kommunismus? Die sich entwickelnde Revolution wird aus denselben Gründen zu einer Weltrevolution, aus welchen der imperialistische Krieg zum imperialistischen Weltkrieg wurde.“
Das Ausbleiben der Revolution in den meisten Ländern wurde daher als „Verrat“ interpretiert, vor allem der Sozialdemokratie. Erst nach dem Scheitern der Ungarischen Räterepublik (1919), des Vormarsches der Roten Armee auf Warschau (1920) sowie der Märzkämpfe (1921) und des Hamburger Aufstandes (1923) in Deutschland verabschiedeten sich die Führungen der Russischen Kommunisten und der Komintern von der Idee eines „Exports der Revolution“. Stalin propagierte den „Sozialismus in einem Land“. Dennoch analysierten große Forschungsinstitute in Moskau und nach 1949 auch in Berlin ständig die Streikbewegungen und Wahlergebnisse linker Parteien in aller Welt daraufhin, ob die Weltrevolution nicht doch noch kommen werde.
Ende des 20. Jahrhunderts hat die Idee des „Exports der Revolution“ die Klassenseite gewechselt und das „Fukuyama“-Syndrom hervorgerufen: der Westen habe den Kalten Krieg auf Grund seiner systemischen Überlegenheit von kapitalistischer Marktwirtschaft und bürgerlichem Parlamentarismus gewonnen und die Geschichte komme nun zu ihrem Ende. Diese Ideen bestimmten seither die Einschätzung der Weltlage und auch die außenpolitischen Strategien in Washington, Brüssel, London, Berlin und anderenorts im Westen. Die selbsternannten „Sieger der Geschichte“ erwarteten einen Zusammenbruch der politischen Systeme auch in den anderen Ländern, in denen „Kommunistische Parteien“ regieren. Das hat sich als grundlegender Irrtum erwiesen, wirkt aber bis heute und erklärt in beträchtlichem Maße die besondere Aggressivität im Westen gegenüber den politischen Systemen und herrschenden Strukturen in diesen Ländern, vor allem gegenüber China. Gestützt auf ihr militärisches Potential schüren die USA regionale Konflikte in geographischer Nähe Chinas, im Südchinesischen und im Ostchinesischen Meer sowie bezüglich Taiwan und Korea. Hinzu kommen die Förderung sezessionistischer Kräfte in Tibet und Xinjiang, geheimdienstfinanzierte Operationen für eine „Farbrevolution“ in China, so bei der Unterstützung von Unruhen in Hongkong.
Auch die Sowjetunion, so eine gängige Auffassung in den USA, habe nicht nur systemisch verloren, sondern Russland als Staat und Gesellschaft. Deshalb solle es sich endlich als „Regionalmacht“ (Originalton Obama) begreifen und sich mit seiner neuen Rolle als Juniorpartner des Westens bescheiden.
Nach auf den ersten Blick erfolgreichen „Farbrevolutionen“ in Georgien, der Ukraine und Armenien fällt der begierige Blick auf Russland. Der Regimewechsel in Belarus wird als Schritt auf diesem Wege verstanden. Nun gibt es keinen Grund, die Gewaltmaßnahmen Lukaschenkos zur Stabilisierung seiner Macht zu beschönigen. Aber erstens hat er das Zurückweichen und die Verhandlungsbereitschaft der zuvor Mächtigen in Georgien, Armenien und der Ukraine als eine Ursache ihres Machtverlustes identifizieren können. Zweitens hat Maduro in Venezuela gerade allen vor Augen geführt, dass man auch noch so laute Proteste im eigenen Land aussitzen kann, wenn man etwa die Hälfte der Bevölkerung sowie Militär und Polizei auf seiner Seite hat.
Aus der Geschichte weiß man, dass auf eine unvollendete, „halbe Revolution“ eine „doppelte Konterrevolution“ folgt. Die Abtötung des „roten Finnlands“ durch das „weiße Finnland“ unter General Mannerheim 1918 kostete tausende Menschen das Leben. Ebenso die Zerschlagung der „Roten“ im Baltikum zur selben Zeit durch deutsche Freikorps. Die Gewaltmaßnahmen eines Lukaschenko sind weit von dem entfernt, was der weiße Terror nach 1918, auch in Deutschland, angerichtet hat. Gleichwohl schauen die Verlierer der „halben Revolution“ in Belarus, die jetzt in Polen, Litauen oder Deutschland Unterschlupf gefunden haben, auf den Westen und erhoffen sich Erlösung durch westliche Intervention, mindestens propagandistisch oder qua „Sanktionen“.
Dass es dem Westen auch seit Ende des Kalten Krieges nie wirklich um Demokratie ging, sondern vor allem um Regimewechsel und die Etablierung passender Regierungen, hat er bereits vor zwanzig Jahren in Jugoslawien vorgeführt. Daran hatte Daniela Dahn in ihrem Buch: „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ erinnert. Slobodan Milošević hatte die Präsidentschaftswahlen am 24. September 2000 gewonnen, gleichwohl wurde er dann aus dem Amt demonstriert. Der Aufbau der Oppositionsgruppe Otpor (Widerstand) war aus einem Reptilienfonds des US-amerikanischen Außenministeriums mit 80 Millionen US-Dollar sowie mittels eines Committee on the Present Danger, an dessen Spitze ein ehemaliger CIA-Direktor stand, finanziert worden. Das Drehbuch war so: Berechtigte Kritik an den Verhältnissen wird aufgebauscht, es gibt spektakuläre Aktionen vor laufender Kamera und wiederkehrende Symbole werden eingeführt, so in Kiew die Farbe Orange, in Georgien Rosen. Wahlen werden grundsätzlich angezweifelt: „Behinderung der Opposition“, „Manipulation“, Fälschungsvorwürfe am Wahlabend, medial wirksame Proteste der Opposition, Erzeugen politischen Drucks im In- und Ausland, am Ende Sturz der Regierung und Übernahme durch die vom Westen aufgebaute Opposition. In diesem Sinne wurde mit dem Sturz von Milošević erprobt, was dann anderenorts, nicht nur in Osteuropa, auch in lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern ebenfalls versucht wurde. Allerdings nicht überall mit Erfolg.
Dass die „demokratischen“ Damen aus Belorussland im Westen herumgereicht werden und immer noch mehr Sanktionen des Westens fordern, wird sie nicht auf den Präsidentensitz bringen. Ich erinnere mich aber immer mal an die jungen Iraker, die Anfang der 2000er Jahre im Westfernsehen vorgeführt wurden und sich auf den Krieg der USA freuten, damit Saddam Hussein endlich gestürzt wird. Ich weiß nicht, ob die sich über die Ergebnisse dieses „Regime Change“ noch immer freuen. Vielleicht gehören sie jetzt zu den Demonstranten, die in Bagdad niedrige Brotpreise, Arbeit und täglich elektrischen Strom fordern.
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