Wer an den prachtvollen Abgründen der Politik,
die immer unsichtbar bleiben sollen,
Gefallen findet, wird sich mit diesem Buch
bestens unterhalten fühlen.
Adam Soboczynski
DIE ZEIT
„Annegret Kramp-Karrenbauers Traum vom Einzug ins Kanzleramt endet vor einer sächsischen Autobahnraststätte. Es ist der 6. Februar 2020, ein Winterabend, an dem es früh dunkel geworden ist in Leipzig-Schkeuditz. Die Parteivorsitzende der CDU blickt vom Rücksitz ihres gepanzerten Dienstwagens in das bläuliche Licht der Aral-Tankstelle. Und steigt aus.“
So, in bester Kolportagemanier, die den Vergleich mit dem frühen Karl May nicht zu scheuen brauchte, beginnt das elfte Kapitel in Robin Alexanders jüngstem Buch „Machtverfall“, und diese Stelle ist keineswegs die einzige, bei der der Autor auf Thrill setzt. Doch während May – der „meistgelesene Lügner der Nation“ (Handelsblatt) – lediglich seiner Phantasie zügellos freien Lauf ließ, hat den Darstellungen Alexanders, im Hauptberuf stellvertretender Chefredakteur Politik der Tageszeitung DIE WELT, seit dem Erscheinen von „Machtverfall“ am 25. Mai 2021 bisher noch keine oder keiner der darin allenfalls ausnahmsweise wohlwollend Porträtierten öffentlich widersprochen. Und dazu zählen neben der Bundeskanzlerin immerhin die führenden Köpfe der Unionsparteien. Deren Agieren und Intrigen von Frühjahr 2017 bis Frühjahr 2021 im ständigen Kampf gegeneinander um die Merkel-Nachfolge erst im Parteivorsitz, dann auch im Kanzleramt – und das Ganze zusätzlich aufgeladen durch die Corona-Krise – zeichnet Alexander „in beklemmender Detailliertheit“, so Kollege Soboczynski, nach. Herausgekommen ist eine Chronique scandaleuse par excellence, die mindestens dem nicht permanenten Beobachter des politischen Geschäftes eine Gänsehaut wohligen Grauens nach der anderen über den Rücken jagen dürfte – ob des alltäglichen Hauens und Stechens sowie der regelmäßigen kalkulierten Schläge unter die Gürtellinie zwischen den Spitzen der Union. Cornelius Pollmer, Süddeutsche Zeitung, nennt „Machtverfall“ sehr treffend ein Schlachtengemälde.
Dabei ist das Buch zugleich reich an analytischen Destillaten wie etwa:
- „‚Alternativlosigkeit‘ ist […] das Merkel-Motto schlechthin, auch wenn die Kanzlerin den Begriff nicht mehr benutzt, seit er 2010 zum Unwort des Jahres gewählt wurde.“
- „Das ist die hohe Schule Merkel’scher Machtpolitik: sich einer Kraft, die etwas bewegen will, nicht in den Weg stellen, sondern deren Energie für die eigenen Zwecke nutzen. Ob die SPD einen Mindestlohn fordert, die Grünen die Ehe für alle oder Klimademonstranten die Abschaltung von Kohlekraftwerken – wer dabei mitmacht, kann sich am Ende mit ein bisschen Geschick für die Erfolge feiern lassen.“
- „Die Kanzlerin hat ein sozialdarwinistisches Verständnis von Politik. Wer sich im Kampf um höchste Ämter nicht durchbeißen kann, hat sie ihrer Meinung nach auch nicht verdient.“
Zu den in der Nachzeichnung von Alexander prachtvollsten „Abgründen der Politik, die immer unsichtbar bleiben sollen“ gehört zweifelsohne die folgende Episode um Friedrich Merz, der 2002 von Merkel bekanntlich handstreichartig um den wichtigen Posten des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gebracht worden war. Sieben Jahre später hatte Merz der Politik frustriert und grantelnd den Rücken gekehrt und seither viel Geld in der Wirtschaft gemacht, jedoch stets auf eine Chance zum Comeback und zur Rache an Merkel gelauert.
Die scheint gekommen, als die Kanzlerin ihren Rückzug vom Amt der Parteivorsitzenden verkündet. Merz wirft seinen Hut in den Ring, denn der Parteivorsitz würde ihm Zugriff auf eine Kanzlerkandidatur, sein eigentliches Ziel, eröffnen. Doch die Partei gibt Annegret Kramp-Karrenbauer den Vorzug.
Unmittelbar danach fordert Merz die Bundeskanzlerin öffentlich auf, ihn als Wirtschaftsminister in ihr Kabinett zu holen. Woran Merkel nicht im Traum denkt.
Als AKK nur etwa 430 Tage nach Ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden zermürbt aufgibt, steigt Merz sofort erneut in den Ring. Ihm gesellt sich NRW-Ministerpräsident Armin Laschet zu und ebenso unerwarteter- wie (aus Sicht von Partei„freunden“) überflüssigerweise auch Norbert Röttgen, der – eine Anspielung auf sein Äußeres – „George Clooney der CDU“, von dem es in der Partei heißt: „hochbegabt, aber auch notorisch illoyal“.
Angesichts dieser Konstellation befürchtet AKK: „[…] ein offener Konflikt um ihre Nachfolge würde der CDU schaden.“ Um das zu vermeiden „möchte sie der Partei noch einen allerletzten Dienst erweisen“: Sie will den ewig renitenten Merz aus dem Rennen nehmen. Merkel soll, so ihr Plan, „über ihren Schatten springen“ und Merz doch noch zum Wirtschaftsminister machen. Gegebenenfalls will AKK „Merkel […] zwingen“. Letzteres kann sie nur riskieren, wenn sie im Parteipräsidium der CDU einen entsprechenden Beschluss zustande brächte. Das wäre im Übrigen „ein unerhörter Vorgang“, ein putschartiger „Regelbruch“, denn das Grundgesetz legt fest: „Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt […].“ Also kann niemand einer Kanzlerin Minister aufzwingen.
AKK will es gleichwohl trotzdem versuchen, doch bevor sie damit ins Präsidium geht, muss sie zunächst ihre fünf Stellvertreter im Amt der Parteivorsitzenden auf ihre Linie bringen:
- Armin Laschet,
- Thomas Strobl, Vorsitzender des mächtigen CDU-Landesverbandes Baden-Württemberg,
- Volker Bouffier, Ministerpräsident von Hessen,
- Julia Klöckner, die Bundeslandwirtschaftsministerin, und
- Silvia Breher, neu im Bundestag, aber dreifache Mutter mit jugendlicher Undercut-Frisur.
Am 24. Februar 2020, morgens um 8:30 Uhr versammelt sich das Sextett in AKKs Büro im Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Parteizentrale in Berlin. Es ist Rosenmontag, doch der fällt aus wegen Corona. Aber AKKs Komplott scheint aufzugehen: die Stellvertreter ziehen mit.
Und hier die Pointe der Geschichte in der Wiedergabe durch Robin Alexander: „Nur einer weiß noch nichts von seinem Glück: Friedrich Merz. Kramp-Karrenbauer wollte ihm kein Angebot machen, bevor sie nicht sicher sein konnte, dass ihre Stellvertreter den Plan unterstützen. Die Zusage hat sie eben beim Frühstück bekommen. Sofort ruft sie Merz an. […]
Kramp-Karrenbauer erklärt ihm, was sie vorhat. Merz soll Wirtschaftsminister werden. Die Parteispitze will die Kanzlerin dazu zwingen. Alle sind sicher, dass das Gespräch nicht lange dauern und Merz schnell zusagen wird. […]
Das Gespräch dauert tatsächlich nicht lange. Merz lehnt das Angebot ab. Sofort, ohne Bedenkzeit. Es reicht ihm nicht, dass die gesamte CDU-Führung einen Aufstand gegen Merkel wagen will, um ihn zum Minister zu machen. ‚Nur Merkel selbst kann mir ein solches Angebot machen‘, sagt er. Merz will die Kanzlerin auf die Knie zwingen. Sie soll ihm ins Gesicht sagen, dass sie ihn braucht.
Kramp-Karrenbauer und ihre Stellvertreter sitzen konsterniert vor der Telefonspinne. Ihnen wird endgültig klar, dass es Friedrich Merz nicht um die Partei oder die Regierung, vielleicht nicht einmal um die Kanzlerschaft geht. Sondern nur um Friedrich Merz. Um sein verletztes Ego. Um die alte Rechnung mit Merkel, die er endlich beglichen haben will.“
Robin Alexander: Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report, Siedler Verlag, München 2021, 384 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Friedrich Merz, Hannes Herbst, Merkel, Union