Angekündigt wurde ein „Report“ über „Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik“, mit dem Obertitel: „Machtverfall“. Der Autor heißt Robin Alexander und ist Journalist aus Wanne-Eickel. Derzeit ist er stellvertretender Chefredakteur der Zeitung Die Welt. Seit 2010 berichtet er über das Kanzleramt, durfte Angela Merkel auf Auslandsreisen begleiten. Früher hat er bei der taz gearbeitet. Ehemalige Linke sind ja oft auf eine entschiedene Weise konservativ. Zwischenzeitlich war Alexander auch bei Vanity Fair tätig, einem 1913 gegründeten britisch-amerikanischen Unterhaltungsmagazin, das es zwei Jahre lang auch auf Deutsch gab. Vanitatum Vanitas, um Gryphius zu bemühen – zu gut Deutsch: die Eitelkeit der Eitelkeiten – merkt man dem Report an.
Zunächst fällt auf, dass Alexander sowohl die SPD als auch die Grünen davor warnt, nach der Bundestagswahl ein grün-rot-rotes Bündnis einzugehen. Zu den Grünen meint er, die „neue Bürgerlichkeit der Partei und ihre Klarheit in der Außenpolitik“ – gemeint sind das Bekenntnis von Annalena Baerbock zu USA und NATO sowie ihre dezidiert antirussische Positionierung – würden eine Koalition Grün-Rot-Rot ausschließen. Das sei „die Achillesferse von Habecks und Baerbocks Erfolgsstory“.
Hinzu kommt, das Werk hat keinen Schluss. Es verebbt mit dem Monitum, Armin Laschets Kanzlerkandidatur sei „eine Pointe des langen Machtverfalls der einst so stolzen Union, der mit der Flüchtlingskrise begonnen und im Missmanagement der Corona-Krise seinen traurigen Höhepunkt gefunden“ habe. Allerdings sei Laschet Helmut Kohl ähnlicher als Angela Merkel. Deshalb solle man ihn nicht unterschätzen. Allerdings ist Angela Merkel auch lange Zeit unterschätzt worden.
Am Ende dankt der Autor einer Reihe von Zuarbeitern, dem „Investigativteam“ und Beratern. In der Tat ist an etlichen Stellen eine dichte, informierte Beschreibung interner Vorgänge zu finden, die der aufmerksamste Zeitungsleser nicht kennt. Angela Merkel hatte am 8. November 2016, eine Woche nach der Wahl Donald Trumps, Barack Obama in Berlin empfangen. Der habe sie gedrängt, noch einmal zur Wahl anzutreten, was sie dem Vernehmen nach ursprünglich nicht wollte. Das Lager der liberalistischen Globalisten in den USA habe in ihr nun „die Führerin der freien Welt“, die „letzte Verteidigerin des freien Westens“ gesehen. Diese Formeln, damals immer wieder in Umlauf gebracht und als übersteigerte Lobhudelei eines regierungsorientierten Medienkomplexes rezipiert, stammten also aus der Küche der US-amerikanischen Wahlverlierer von 2016. Vier Tage nach diesem Vier-Augen-Gespräch kündigte Merkel bekanntlich an, zur Bundestagswahl 2017 wieder anzutreten. Die Verbindung mit dem Treffen hatte sie nicht ausdrücklich bestätigt. Dies sollte, so Alexander, ihr „Platz in der Weltgeschichte“ sein.
Das habe Corona durchkreuzt. Im Frühjahrs-Lockdown 2020, so Alexander weiter, „hatten sich Deutschland und seine Kanzlerin noch in der Rolle als erfolgreichste Corona-Bekämpfer der Welt gefallen“, ein Jahr später habe es freilich anders ausgesehen. Masken fehlten, Tests und Impfstoff. In vielen Ländern sei schneller geimpft worden. Die „föderalisch organisierte Bundesrepublik“ habe sich in einer Krise dieses Ausmaßes als ein Gebilde erwiesen, „in dem die Verantwortung zwischen den vielen großen und kleinen staatlichen Akteuren so lange hin- und hergeschoben wird, bis nicht mehr erkennbar ist, wer sie eigentlich trägt“. Deutschland habe „sich in der Pandemie als schlecht regiertes Land“ erlebt.
Das lastet Alexander unmittelbar der Kanzlerin an. Dabei menschelt er auf eine pejorative Weise: Sie hätte persönlich Angst vor dem Virus, habe sich viel Wissen um den Virus angelesen, aber nur mit jenen Virologen und anderen Wissenschaftlern kommuniziert, die ihre Meinung teilten. Eben noch weltweit verehrt, „sieht die Weltöffentlichkeit in ihr plötzlich die müde Regentin eines risikoscheuen, überbürokratisierten, technisch abgehängten Landes“. Deutsche Medien, die sie eben noch in den Himmel hoben, wendeten sich ab.
„Das Corona-Management der Bundesregierung, angeführt von einer müden, mutlosen Kanzlerin und ihren überforderten CDU-Ministern“, so Alexanders Verdikt, „ist im Grunde genommen gescheitert. Zu wenige Tests, zu wenig Impfstoff, eine chaotische Impfkampagne, überforderte Ämter, eine unfähige Bürokratie, Schulen auf, Schulen wieder zu“. Das habe im Frühjahr 2021 auch die Lage der CDU verschlechtert. „Der Mythos von der Union als natürlicher Regierungspartei zerfällt vor aller Augen. Wenn CDU und CSU etwas können, so dachten über Jahrzehnte viele in diesem Land, dann ist es, Deutschland vernünftig und mit Augenmaß zu regieren. Wenn die Kanzlerin etwas kann, […] dann ist es, Deutschland gut durch jede Krise zu führen. Beides gilt nicht mehr. Die Union und mit ihr der deutsche Staat präsentieren sich nach 16 Jahren Merkel-Kanzlerschaft als bräsig, ineffektiv und überfordert.“
Wenn man dies als Urteil über den Zustand Deutschlands als politisches Gemeinwesen und über die Fähigkeiten der deutschen politischen Klasse als ganze liest, ist es zweifellos zutreffend. Als Verurteilung Merkels hingegen taugt es nicht. Das zeigt sich besonders an jenen Stellen, wo Robin Alexander das praktische Agieren Merkels beschreibt, um die Legislaturperiode unbehelligt bis zum Ende durchregieren zu können. Eigentlich wollte sie Ursula von der Leyen als Nachfolgerin, war sich dann aber wohl im Klaren, dass diese mit ihrer spröden Art weder die Partei noch die Wähler begeistern würde. Sie „ist hochintelligent, bienenfleißig und manisch ehrgeizig“. Aber „nicht beliebt genug, vor allem nicht bei den eigenen Leuten“. So lancierte Merkel von der Leyen auf den Platz der Präsidentin der EU-Kommission.
Das ging so: Die Christdemokraten (Europäische Volkspartei) hatten den CSU-Mann Manfred Weber als Spitzenkandidaten aufgestellt, die Sozialdemokraten den Niederländer Frans Timmermans, die Liberalen Margrethe Vestager aus Dänemark. Die EU-orientierten Parteipolitiker feierten dies als weiteren Schritt zur Parlamentarisierung der EU und gingen davon aus, einer der Spitzenkandidaten müsse unbedingt Kommissionspräsident werden. Die EVP erhielt eine relative Mehrheit. Da Weber einen scharfen Wahlkampf gegen Orbán und die polnische PiS-Partei geführt hatte, lehnten Ungarn und Polen Weber ab. Der Kommissionspräsident braucht jedoch ein doppeltes Votum: des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates (der Staats- und Regierungschefs). Merkel war auch gegen das „Spitzenkandidatenprinzip“, weil sie aus ihrer EU-Erfahrung heraus immer wollte, dass die Staats- und Regierungschefs den Kommissionspräsidenten unter sich ausmachen. Am 26. Juni 2019 lud Merkel zu einer internen Runde ins Kanzleramt mit der CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer, dem CSU-Vorsitzenden Söder, dem damaligen Vorsitzenden der EVP aus Frankreich und Weber ein. Schlitzohrig fragte Merkel den Weber, ob er denn eine Mehrheit im EU-Parlament habe. Hatte er nicht, daher musste er abtreten. Rein taktisch schlug Merkel nun den unterlegenen Timmermans vor, was zu lauten Protesten der EVP führte. Dann schlug der französische Präsident Macron völlig überraschend von der Leyen vor. Dafür fehlte jedoch eine Mehrheit im EP. Die zu beschaffen, schickte Merkel den jungen CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak nach Warschau. Der geborene Pole spricht seine Muttersprache fließend und hatte ein Vier-Augen-Gespräch mit dem PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski. Wer wem was versprochen hat, weiß niemand, beide müssen über solche Gespräche kein Protokoll anfertigen, das ins Archiv des Auswärtigen Amtes wandert. Viktor Orbán begrüßte die von der Leyen-Lösung ebenfalls, damit war das „Spitzenkandidatenprinzip“ abschließend beerdigt. Dass von der Leyen und die EU-Administration mit der Beschaffung von Masken und Corona-Impfstoff völlig überfordert sein würden, konnte Merkel damals nicht ahnen.
Die zweite Hürde stellte die CDU dar. Annegret Kramp-Karrenbauer, erfolgreiche CDU-Politikerin aus dem Saarland, hatte Merkel als CDU-Generalsekretärin nach Berlin geholt und dann CDU-Vorsitzende werden lassen, nachdem sie selbst nach Wahlverlusten der Christdemokraten 2018 zurückgetreten war – auch wenn es von der Leyen nicht werden konnte, sollte es doch eine Frau sein. Dabei musste sich Kramp-Karrenbauer gegen Friedrich Merz, der als besonders konservativ gilt und von Merkel vor vielen Jahren in der CDU ausmanövriert worden war, und andere durchsetzen. Am Ende schaffte sie es. Wobei Alexander über Merkel sagt, sie habe „ein sozialdarwinistisches Verständnis von Politik“. Sie habe mal gesagt, sie bringe Leute in Position. „Laufen müssen sie selber.“ Kramp-Karrenbauer taktiert dann, trifft sich mit Merz, der ihr einreden will, sie solle Merkel stürzen und selber Kanzlerin werden, noch in dieser Legislaturperiode. Er selbst wollte bei einem solchen Coup Wirtschaftsminister werden.
Merkel, die nach all den Jahren weiter ihre Netzwerke in der CDU hat, erfährt natürlich davon. Beide werden nichts. Kramp-Karrenbauer scheitert daran, die politische Krise in Thüringen zu bewältigen, nachdem die CDU gemeinsam mit der AfD einen FDP-Mann zum Ministerpräsidenten gewählt hatte. Am Ende wurde Armin Laschet CDU-Vorsitzender. Kanzlerkandidat wurde er ebenfalls, über die Intrigenwelt der CDU, weil in der Partei niemand mehr genug Profil hatte, einen Söder durchzusetzen. Dem Streit dieser beiden – Laschet und Söder – schaute die Kanzlerin kommentarlos zu. Aus naturwissenschaftlicher Sicht war das gewiss ein interessanter Fall darwinistischer Auslese.
Die letzte Hürde war die SPD. Nachdem die langwierigen Koalitionsverhandlungen mit Grünen und FDP gescheitert waren, weil Lindner Angst vor der Regierungsverantwortung hatte, wurde die SPD aus nationaler Verantwortung zu den Fahnen gerufen. Kevin Kühnert von den Jungsozialisten entfachte eine Kampagne gegen eine neuerliche Große Koalition, drang jedoch am Ende nicht durch. Andrea Nahles war damals Vorsitzende der Partei und der SPD-Bundestagsfraktion. Sie wurde später – wie Alexander behauptet – mit gezieltem Mobbing, auch durch Merkel, zur Aufgabe getrieben. Einen Beweis für die Beteiligung der Kanzlerin bringt der Autor nicht. Die SPD-Basis votierte bei der Entscheidung über den neuen Parteivorsitz für das Duo der völlig unbekannten Hinterbänklerin Saskia Esken und des mäßig bekannten ehemaligen Finanzministers aus NRW, Norbert Walter-Borjans, die als „links“ galten. Merkel lud gleich nach ihrer Wahl beide zum Frühstück ins Bundeskanzleramt, weil sie ja nun zur „Koalitionsrunde“ gehörten. Mit Esken traf sie sich nach jeder Sitzung des Koalitionsausschusses auf ein Gläschen Wein, zudem fand diese in einer Runde zur „schnellen Digitalisierung der Schulen“ zusätzliche Beschäftigung. So war die Koalition trotz der Dauerquerelen in der SPD gesichert.
In einem operativen Sinn gibt es keinen Verlust der Macht Merkels. Die bleibt bis zur Übergabe an Laschet gesichert.
Robin Alexander: Machtverfall: Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik, Siedler Verlag, München 2021, 384 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, CDU, Kramp-Karrenbauer, Laschet, Merkel, Robin Alexander, Söder, von der Leyen