Schriftstellerin, Salonière, „Selbstdenkerin“ – all diese Bezeichnungen treffen auf sie zu. Gemeint ist Rahel Varnhagen, deren 250. Geburtstag erst unlängst Anlass für zahlreiche Würdigungen und Neuerscheinungen bot. Zu denen, die sich schon früh mit ihrem Leben und Werk beschäftigten, gehörte auch Hannah Arendt.
Nach ihrer Studienzeit in Marburg, Freiburg und Heidelberg lebte Arendt Ende der Zwanzigerjahre zunächst in Berlin und zog dann für einige Monate nach Potsdam, genauer gesagt nach Nowawes. Gemeinsam mit Günther Stern, dem sie am 26. September 1929 im Nowaweser Rathaus das Ja-Wort gab und der ab den Dreißigerjahren für seine Veröffentlichungen das Pseudonym „Günther Anders“ benutzen sollte, wohnte sie im Haus des Reichsbankinspektors Otto Lüer in der Merkurstraße, unweit des heutigen Bahnhofs Potsdam Medienstadt. Dort bereitete Arendt zum einen die Veröffentlichung ihrer von Jaspers betreuten Dissertation vor, die Ende 1929 unter dem Titel „Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation“ erschien. Zum anderen begann sie mit den Vorarbeiten für ihr Buch über Rahel Varnhagen.
Die Anregung zu diesem Thema kam offensichtlich von Anne Mendelssohn, die sie 1921 in Königsberg kennengelernt hatte und der sie das Buch später widmen sollte. Diese hatte ihr die 1834 von Karl August Varnhagen herausgegebene dreibändige Ausgabe von „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“ geschenkt, die zur wichtigsten Quelle für Arendts Biographie wurde. Auch während ihrer Studienzeit scheint sich Hannah Arendt immer wieder mit Rahel Varnhagen beschäftigt zu haben, diesen Schluss erlaubt zumindest ein Brief von Martin Heidegger vom März 1925.
Varnhagens Lebensgeschichte interessierte sie mehr und mehr. Nach eigener Aussage wurde diese schon bald ihre „wirklich beste Freundin“. Konkret wurde das Projekt im Januar 1929, als sich Arendt an ihren Doktorvater Karl Jaspers wandte und ihn um ein Gutachten für ein Stipendium bat, das sie bei der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin beantragen wollte. Dort lehnte man ihr Ersuchen ab und verwies sie an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Vorläuferorganisation der heutigen Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Eigentlich, so schrieb Arendt Jahre später an Jaspers, sollte das Buch „einfach ,Rahel Varnhagen. Eine Biographie‘ heißen“. Für ihren Anfang März 1930 bei der Notgemeinschaft eingereichten Antrag wählte sie allerdings den bedeutungsvolleren Titel „Über das Problem der deutsch-jüdischen Assimilation, exemplifiziert an dem Leben der Rahel Varnhagen“ – zwei Monate später kam die Bewilligung, jedoch nur für ein Jahr.
Ein erstes Ergebnis ihrer Arbeit legte Hannah Arendt Ende 1931 mit dem Beitrag „Berliner Salon. Brief Rahels an Pauline Wiesel“ vor, erschienen im Deutschen Almanach für das Jahr 1932. Ein paar Monate darauf, als am 7. März 1933 des hundertsten Todestages von Rahel Varnhagen gedacht wurde, veröffentlichte sie in der Kölnischen Zeitung und in der Jüdischen Rundschau zwei weitere, ihr gewidmete Essays. Zwar schrieb Arendt an ihrem Buch, das „bis auf die letzten beiden Kapitel fertig [war], als [sie] Deutschland 1933 verließ“, „schon mit dem Bewußtsein des Untergangs des deutschen Judentums“. Dass diese Arbeit jedoch erst mehr als zwei Jahrzehnte später gedruckt werden sollte, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Was geschah weiter? Ein Exemplar des vor ihrer Flucht noch schnell angefertigten Typoskripts, die sogenannte „Berliner Fassung“, übergab Arendt Anne Weils Mutter, die es am 15. November 1933 an Jaspers in Heidelberg schickte. Während der Zeit im französischen Exil entstand 1937/38 eine nicht überlieferte „Pariser Fassung“, die möglicherweise die Grundlage für die in der ersten Hälfte des Jahres 1956 angefertigte „New Yorker Version“ war. Da sowohl die deutsche als auch die englische Buchfassung von dieser Version abweichen, hat Arendt offenbar auch diese noch einmal überarbeitet. 1958 wurde dann in London zunächst eine englische Fassung des Buches veröffentlicht, Untertitel „The Life of a Jewess“. Im Sommer desselben Jahres kam schließlich der Vertrag mit dem Piper Verlag zustande, und am 22. Juni 1959 wurde „Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ in einer Erstauflage von 4.000 Exemplaren an die Buchhandlungen ausgeliefert. Anders als in England, wo das Buch als das Werk einer „Unbekannten“ kaum Beachtung fand, erschienen in Deutschland in allen großen und zahlreichen regionalen Tageszeitungen Besprechungen, oftmals verbunden mit dem Hinweis darauf, dass Arendt gerade der Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg zuerkannt worden war.
Ironie der Geschichte: Im Herbst 1967 begann eine vier Jahre dauernde juristische Auseinandersetzung, in der es um das durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht zum formellen Abschluss gebrachte Habilitationsverfahren und die Arendt dadurch entgangene Beamtenpension ging. Am 4. November 1971 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Arendts Biographie der Rahel Varnhagen nachträglich als Habilitationsschrift anerkannt und ihr die „Rechtsstellung eines ordentlichen Professors“ gewährt wird. Als „Lex Arendt“ ist dieses Wiedergutmachungsverfahren in die bundesdeutsche Rechtsgeschichte eingegangen.
Mit dem von Barbara Hahn herausgegebenen zweiten Band der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hannah Arendt wird all das oben Gesagte nicht nur in umfassender Weise dokumentiert, sondern auf rund 250 Seiten auch ausführlich und kenntnisreich kommentiert. Neben der deutschen Buchfassung von 1959 und dem Text der revidierten, in New York publizierten englischen Ausgabe von 1974 findet sich in diesem Band auch erstmals die im Nachlass von Karl Jaspers aufbewahrte „Berliner Fassung“. Hinzu kommen die drei oben genannten, von Hannah Arendt 1931 bzw. 1933 veröffentlichten Beiträge sowie der Ende 1934 in den Cahiers juifs erschienene, aus der „Berliner Fassung“ hervorgegangene Aufsatz „Rahel Varnhagen et Goethe“.
In der Rückschau auf ihre Arbeit und als Reaktion auf eine Kritik, die Käte Hamburger in einem Aufsatz an ihrem Buch geübt hatte, reagierte Hannah Arendt im Juni 1971 mit der Feststellung: „Und obwohl es vierzig Jahre her ist, seit ich dies Buch geschrieben habe, bin ich immer noch der Meinung, dass ich ihr damit eine Ehre erwiesen habe.“ – Das kann man nur bestätigen.
Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin, hrsg. von Barbara Hahn unter Mitarbeit von Johanna Egger und Friederike Wein [= Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2], Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 969 Seiten, 49,00 Euro.
Schlagwörter: Barbara Hahn, Hannah Arendt, Mathias Iven, Rahel Varnhagen