Es war relativ still geworden um den Machtkampf in Belarus. Seit dem 23. Mai 2021 aber tönen die hiesigen Leitmedien unisono und mit neuer Kraft: Der Pirat Lukaschenko hat völkerrechtswidrig einen Kämpfer für Freiheit und Demokratie kidnappen lassen und der Spiegel verortet das Land folgerichtig vier Tage später als „neues Nordkorea“. Zwar kennen die meisten hierzulande keines der beiden Länder. Ein anderer Lauttöner, Norbert Röttgen von der CDU, erklärte bereits am 26. Mai, Russland habe die „Aktion mindestens abgesegnet“, wenn „nicht sogar operativ unterstützt“. Außenminister Maas legte umgehend nach: „Die Zeit des Dialoges ist vorbei“. Auch Bundeskanzlerin Merkel stimmte in den Chor ein.
Gregor Gysi, der sich vorsichtig aus der Deckung wagte und Parallelen zur erzwungenen Landung des Flugzeuges von Präsiden Morales 2013 in Wien zog, wurde prompt zurechtgewiesen. Das sei nicht vergleichbar: Quod licet Iovi, non licet bovi!
Stimmen, die auf eine sachliche Wertung verwiesen und die sowohl zum Ablauf, als auch zu den Umständen eine unvoreingenommene Prüfung anmahnen, bleibt meist nur der virtuelle Raum. Russische oder weißrussische Positionen werden nur erwähnt und ungeprüft kolportiert, wenn sie von oppositionellen Kreisen stammen. Das Vorurteil ist offensichtlich wichtiger als das Urteil. Sachliche Klärung wird schon lange nicht mehr angestrebt.
Auch ich kenne bis heute die näheren Umstände und Hintergründe der Landung des Flugzeuges in Minsk nicht. Ich habe, genau wie diejenigen, die uns die Nachrichten umgehend ins Haus flattern lassen, keinen Zugriff auf gewisse geheime Büros in Warschau, London, Minsk und Moskau.
Vom blutigen Maidan-Putsch in Kiew 2014 und dem folgenden Bürgerkrieg im Donbass über die friedliche Sezession der Krim 2014, dem Abschuss des malaysischen Flugzeugs MF 17 im Juli 2014 bis hin zu den ominösen Vergiftungen von Alexander Litwinenko 2006 in London, Sergej Skribal und Tochter 2014 ebenfalls in Großbritannien und Alexej Nawalny im August 2020 in Russland – die Reihe unbewiesener Anschuldigungen und bislang ungeklärter Widersprüche wird immer länger, wie auch die kürzlich nachgereichte Story der Sprengstoffdepotexplosion 2014 in Tschechien zeigt. Willkommen im postfaktischen Zeitalter?
Zurück nach Minsk. Wird es der „demokratischen Opposition“ endlich gelingen, im Windschatten der aktuellen Ereignisse den „letzten Diktator Europas“, Präsident Aleksandr Lukaschenko, zu bezwingen? Die neue Sanktionsspirale und der Wink mit Milliardenzahlungen müssten seinen offen prowestlichen Gegnern doch frischen Wind in die Segel blasen. Der zögerliche, widersprüchliche Prozess der nationalen Versöhnung, der in Belarus, auch durch die Herrschenden, angeschoben wurde, würde damit freilich obsolet werden.
Viele Weißrussen, selbst jene, die sich einen neuen Präsidenten wünschen, fürchten jedoch neoliberale Reformen. Die für den Fall eines Regime Chance angekündigten westlichen Finanzhilfen kommentierte ein Bekannter in Minsk sarkastisch: „Gratiskäse gibt es nur in der Mausefalle.“
Der nationalistisch-chauvinistische antirussische Chor, der den Maidan in Kiew seinerzeit beflügelte und der in Polen und den baltischen Staaten zum Kanon der Herrschaftserzählung gehört, findet in Belarus weniger Anklang.
Die Symbolfarben des radikalsten Teils der Opposition, von ihren Protagonisten „Weiß als Zeichen für den menschlichen Geist und rot als Symbol für das Blut Jesu Christi“ gedeutet, sind und bleiben die jener Flagge, unter der die einheimischen Kollaborateure gemeinsam mit den deutschen Okkupanten 1941 bis 1944 unvorstellbare und unvergleichliche Verbrechen verübten.
Dass die Führungsfiguren der Opposition keine Details ihrer politischen und vor allem wirtschaftlichen Programme zur Diskussion stellen, macht einen Teil der Bevölkerung augenscheinlich sehr misstrauisch. Für die Katze im Sack will wohl nicht jeder auf die Straße gehen.
Freilich zeigt auch die energische Gegenwehr der Regierung Wirkung. Nicht zimperlich werden Regeln der Versammlungs- und Pressefreiheit sehr eng ausgelegt. Und in Punkto Härte können sich die weißrussischen Polizisten mit den Kollegen in einigen westlichen Demokratien durchaus messen.
Die offene Unterstützung eines Umsturzes durch die Regierungen Polens, der baltischen Staaten und seit kurzem auch der Ukraine spielen allerdings wohl eher in die Hände des bestehenden Herrschaftssystems.
Letztendlich wird entscheidend sein, wie der belarussische Staat in der Lage ist, den gegenwärtigen bescheidenen, aber sicheren materiellen Wohlstand der Bevölkerung zu sichern und zu heben. Denn dass es nach ihrer Machtübernahme keinen solchen Absturz wie in der Ukraine geben würde, dies konnten die rot-weißen Gegner Lukaschenkos bisher nicht glaubhaft machen.
Das paternalistisch-staatskapitalistische System des Landes hat in der Vergangenheit die Kraft gefunden, allen westlichen Sanktionen zu trotzen. Es war in der Lage, pragmatisch und unerwartet unideologisch zu reagieren. Mit Hilfe Russlands und des engen Partners China dürfte auch die jetzige Krise wirtschaftlich zu meistern sein. Die gewohnten außenpolitischen Pirouetten und Wendungen des Präsidenten könnten freilich einer endgültigen Annäherung an Russland weichen, auch wenn es zunächst nach wie vor keine innige Liebesbeziehung werden wird.
Was hält das Regime außerdem an der Macht? Da sind zunächst die spezifischen politischen und sozialökonomischen Verhältnisse des Landes. Im Gegensatz zu Russland und anderen postsowjetischen Staaten sind die Schlüsselbereiche der Wirtschaft in staatlicher Hand verblieben. Bildung und Gesundheitswesen unterliegen nur marginal den Markgesetzen. Die Energieversorgung, die Verkehrsinfrastruktur und die großen Unternehmen des Maschinenbau und der Rohstoffverarbeitung sowie der gesamte Finanzsektor werden vom Staat kontrolliert. Land- und forstwirtschaftliche Flächen sind laut Verfassung Staatseigentum und somit der Privatisierung und der Spekulation entzogen. Der Staat ist damit auch in Krisenzeiten lange handlungsfähig.
Die Schicht der Oligarchen und Superreichen fehlt völlig. Die Manager der staatlichen Unternehmen werden streng kontrolliert. Ihnen sind jedwede eigenen Initiativen verwehrt, die auf Kosten der Beschäftigten und der Gewinnabführung an den Staatshaushalt gehen.
Trotzdem erwirtschaftet der private Sektor mittlerweile fast die Hälfte des Bruttosozialprodukts. Er wird vom Staat in typisch paternalistischer Manier behandelt. Der teilweise großzügigen Förderung stehen oftmals penible Kontrollen gegenüber. Die Gewinne sollen auch hier nur bis zu einer gewissen Höhe in die Taschen der Eigentümer fließen.
Auch in Weißrussland bleibt indes nicht verborgen, dass der Westen selbst sich in einer tiefen wirtschaftlichen und politisch-sozialen Krise befindet. Trotzdem gibt es, vor allem bei jungen Menschen, immer noch die Vision, es irgendwo dort vom Tellerwäscher zum Millionär zu schaffen. Nicht zufällig sind das oft Großstadtbewohner mit akademischer Ausbildung und nicht selten die Kinder der Eliten. Sie arbeiten gerne in der Finanzdienstleistung, im subventionierten Kultur- und Hochschulbereich, im staatlich gepäppelten IT-Sektor oder einfach als Blogger oder schwer zu definierende Freelancer. Ein Job bei einem ausländischen Fond oder einer Stiftung gilt in diesem Milieu als Ritterschlag des Erfolges.
Bei jenen jedoch, die in Staatsunternehmen, in der Produktion materieller Güter oder in der Land- und Forstwirtschaft arbeiten, wächst die Angst, mit Reformen à la Westen den sozialen Schutz des Staates zu verlieren. Die Furcht, dass mit dem Regime verschwindet, was seit 1994 an Positivem geschaffen wurde, geht vor allem im sozialen Umfeld der Arbeiter, Bauern und kleinen Staatsangestellten um. Der Kolchostraktorist im Dorf hat gesehen, wie bei seinem ukrainischen Bruder zuerst die Genossenschaft und dann der Traktor verschwanden und dieser auch sein Dorf verlor, als er als Wanderarbeiter auf die Erntefelder der EU zog. Wer will dem Kalikumpel in Saligorsk ernsthaft glaubhaft machen, dass er seinen Job, von dem er in seinem gewohnten Umfeld gut leben kann, behält? Wie die Riesentraktorenfabrik in Minsk nach neoliberalen Reformen aussehen würde, kann man sich ohne große Phantasie vorstellen.
Ob Lukaschenkos Berater ihm das Buch von Sahra Wagenknecht „Die Selbstgerechten“ zum Lesen gegeben haben? Sicher nicht! Ansonsten würde er begreifen, warum ein großer Teil der vor allem städtischen, meist jungen, oder, wie es in Belarus heißt, „kreativen Intellektuellen“, den Kern der Proteste bilden.
Der Präsident wirft ihnen Undankbarkeit, mangelte Loyalität zum Nationalstaat und fehlende Solidarität mit den weniger begünstigten und oft nichtakademischen Mitbürgern vor. Sie wären nicht bereit, als Gegenleistung für subventionierte Ausbildung, berufliche Förderung, bescheidene soziale Sicherheit, ohne Angst vor Krieg und grassierender Alltagskriminalität auf Egoismus und überzogenen Konsum zu verzichten. Verlange einer von den Fröschen, dass sie den Sumpf trockenlegen!
Belarus ist ein europäischer Staat und die Linksliberalen hatten genügend Zeit und Gelegenheit, sich auch in Grodno, Minsk und Brest einzurichten. Sie speisen sich aus denselben sozialen Quellen wie in Deutschland und haben die gleichen Thesen parat. Die Biographien der Akteure sprechen Bände. Allerdings sind sie wesentlich schwächer und können einige typische Forderungen noch nicht ganz so lautstark wie im Westen äußern. Einige Forderungen etwa aus dem Gender- oder LGBT-Katalog klingen in weißrussischen Ohren schräg bis kakophon.
Die einfache, alles dominierende und letztendlich vorerst einzige oppositionelle Losung „Lukaschenko muss weg“ verstellt den Blick auf die möglichen Perspektiven und Folgen. Sie reicht bislang offenbar noch nicht aus, von innen heraus eine Veränderung der Pattsituation zu bewirken. Es bedarf daher vielleicht noch einiger Punktlandungen in Minsk.
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