Ist man mühsam die vier Treppen des einstigen Berliner Kühlhauses emporgestiegen, öffnet sich in dem großen Saal des Dachgeschosses eine bunte, flirrende und verwirrende, schillernde, turbulente, geheimnisvolle Bilderwelt. Großformatige Bilder hängen dicht gedrängt nebeneinander, überladen mit Motiven, die bausteinartig zu einer Komposition zusammengefügt sind. Man weiß nicht, wohin man den Blick zuerst lenken soll: „Jahrmarktparade“ (1938), „Vor dem Auftritt“ (1942), „Circe“ (1942), „Stürzende“ (1948), „Parade der Irrtümer“ (1953), „Maschinenstadt“ (1953), „Die apokalyptischen Reiter“ (1959), „Stillleben mit Anatomiekopf“ (1961), „Der Altar“ (1963), „Triptychon Herzass“ (1968) und andere. Aber man wird sogleich empfangen von Wolfgang Kunz, dem Sohn des Künstlers, selbst Fotograf und ein hinreißender Erzähler, der einen kundig durch die Bildwelt seines Vaters führt. Zusammen mit seinem Bruder Michael bewahrt und behütet er das Erbe des Vaters, stellt es aus, so wie jetzt zum 50. Todestag von Karl Kunz, unterstützt Werkverzeichnisse, weiß über die in Museums- und Privatbesitz befindlichen Werke genau Bescheid, hat auch Bilder aus Privathand zurückerworben.
Wer aber war Karl Kurz, der „Einzelgänger der Moderne“, wie er genannt wird? 1905 als Sohn eines Schreiners in Augsburg geboren, bildete er sich in München als Autodidakt weiter, wobei er sich vor allem dem Aktzeichnen widmete, und eignete sich auch ein gediegenes kunstgeschichtliches Wissen an. In Berlin fand er seinen dem Surrealismus angenäherten Stil und wurde dann Meisterschüler und Assistent an der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle. 1933 wurde das Ehepaar Kunz von der Gestapo verfolgt, weil es einem jüdischen Professor bei der Flucht half, über Kunz wurde dann ein Malverbot verhängt und das Urteil „Entarteter Künstler“ gesprochen. Kunz kehrte darauf ins elterliche Haus zurück, übernahm das Furniergeschäft des Vaters und arbeitete trotz des Malverbotes nachts an seinen Bildern weiter. 1944 wurden bei einem Bombenangriff auf Augsburg die meisten seiner Werke zerstört. Den Neuanfang nach Kriegsende vermochte er für sich nicht zu nutzen. Anfangs noch an den wichtigsten Präsentationen der modernen Kunst beteiligt, kam es dann kaum noch zu Ausstellungen. Abrupt endete ein Lehrauftrag an der neugegründeten Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken. Der allgemeinen Tendenz zur gegenstandslos-abstrakten Malerei im Westen Deutschlands verweigerte er sich und hielt an seiner Position zwischen den Stilen, zwischen Wirklichkeit und Imagination, seiner Methode des Zitates und der Metamorphose fest. Erneut begab er sich in die Isolierung, zog nach Weilburg an der Lahn, wo seiner Frau eine Lehrtätigkeit angeboten worden war, richtete sich dann in Frankfurt a.M. ein Atelier ein, erlebte doch noch mehrere Ausstellungen, unternahm Reisen nach Paris, Venedig und Spanien und erhielt noch einen Ehrenaufenthalt in der Villa Massimo in Rom, bevor er 1971, 66jährig, in Frankfurt starb.
Ja, Karl Kunz war ein Eklektizist, wenn man darunter die Mischung von unterschiedlichen Motiven und Stilrichtungen versteht, aber er baute sie zu einer eigenständigen Bildwelt zusammen. Er war auch ein Neo-Manierist, wie ihn der Kunsthistoriker Gustav René Hocke bezeichnete, dem Kunz in einem Brief schrieb: „Ich bilde mir ein, dass ich ein Bild gebe, das eine Entsprechung zu dem ist, was das Leben mir zuführte und mir antat, im Guten wie im Schlechten. Es war ein Leben voll von Grausamkeit, Mord und Wahnsinn, aber auch voll von Liebe, Süße, Schönheit. Und so bunt, so voll von Spannungen und Widersprüchen möchte ich mein Werk sehen“. Er verknüpfte klassische Motive mit religiösen, näherte sich mal dem Surrealismus, dem Kubismus, später sogar Pop-Art an, baute aber auch abstrakte und geometrische Formen und Gebilde ein, wobei sich mitunter auch verschiedene Stilrichtungen in einem Werk zusammenfinden können. Akrobaten und Komödianten, Gaukler und mythologische Figuren bilden den Grundbestand, sie erscheinen als Wiedergänger in seinen Bildern. Im Mittelpunkt stehen häufig der weibliche Akt, torsohafte Gestalten, das Spiel der Gliedmaßen, die in immer größere Bewegung geraten. Die Körper-Darstellung ist erotisch aufgeladen, bedeutet zugleich Vergänglichkeit und Verfall.
Waren bisher die Bildräume noch ortbar, wurden die Figurenszenen dann in kulissenhafte Raumsituationen oder ornamentale Flächen eingefügt. Masken, Draperien, Theaterkulissen, architektonische Elemente, Schneiderpuppen, die er aus dem Beruf der Mutter als Putzmacherin noch gut kannte, Ornamente, selbst Furniere, die ihm aus dem väterlichen Geschäft vertraut waren, füllen seine Bilder aus. Dem selbst Erlebten, Erfahrenen, auch wenn es lange zurückliegt, Eindrücken, die er den von ihm in Mappen gesammelten Abbildungen oder eigenen Zeichnungen von Objekten unterschiedlichster Art entnahm, hat er in seinen Bildern ein neues eigenwilliges Leben verliehen. Seine Figurationen arbeiten sich aus einem ganzen Linienlabyrinth heraus; dann erst kommt die Farbe hinzu. Er formte die Dinge um, setzte sie neu zusammen, gab ihnen einen neuen Sinn und Zusammenhang. Das Dramatisch-Groteske, Karikaturhafte, Aggressive nahm in den späten Bildern zu.
In Anlehnung an Picassos berühmtem Antikriegsbild „Guernica“ entstand 1942 sein Gemälde „Krieg“; Zitate Picassos, wie das Pferd und der Frauenkopf, erhalten bei Kunz symbolischen Verweischarakter. Mit dem NS-Slogan „Deutschland erwache“ (1942) als Titel nahm Kunz in einem surrealistischen Alptraum schon den Untergang des „Dritten Reiches“ vorweg. „Der Schiffbrüchige“ (1942/52) geht auf das Foto einer Zeitschrift zurück, die eine an den Strand gespülte hölzerne Galionsfigur eines gesunkenen Schiffes darstellt. Der Schiffbrüchige wie auch der Gaukler oder der Harlekin, mit denen sich Kunz identifiziert, stellen als Sinnbilder tragischen Scheiterns Schlüsselfiguren in seinem Gesamtwerk dar und kehren auch in anderen Bildern immer wieder.
In der Maschinenfabrik MAN in Augsburg hat der Künstler Anfang der 1950er Jahre Maschinenteile auf dem Blatt festgehalten. Schon beim Skizzieren vermischte sich real Geschautes mit Imagination und in dem Bild „Maschinenstadt“ (1964) formte er dann die Maschinenteile zu Häusern, in denen Figuren wie Fossile hausen. In dem Bild „Ruine“ hatte er 1946 noch vom Bombenkrieg betroffene, schachtelartig gestaffelte Wohnraumskelette dargestellt. Auf dem Frankfurter Peterfriedhof zeichnete Kunz Ende der 1950er Jahre Grabmale, die er dann als Todesembleme oder als Motiv der Vergänglichkeit, als Memento mori, in seine Bilder einfügte. In den Schlachthäusern und Markthallen von Paris skizzierte er das Fleisch geschlachteter Tiere, das ihm sinnfälliger erschien als der lebende menschliche Körper. Die verführerische Macht des nackten Fleisches nimmt in apokalyptischen Szenen zerstörerische Züge an und weckt die Sehnsucht nach Erlösung („Kreuzigung“, 1950). Zu einem orgiastischen Treiben weitet sich „Die Hure Babylon“ (1958) aus, ein zähnefletschendes Ungeheuer, zusammengesetzt aus blutigen Fleischfetzen, zerstückelten nackten Körperteilen, grinsenden Gesichtern, das, auf einem siebenköpfigen gehörnten Drachen reitend, Unheil über die Welt bringt.
Ein bildgewordenes Welttheater, eine Welt alptraumhafter Visionen und abgründiger Phantasie, existentieller Ängste und austobender Lust, turbulent und widerspruchsvoll – sie erfordert die aktive Teilnahme des Betrachters, seine Fähigkeit zur Assoziation, zum Deuten der Symbole und Metaphern, zum Denken in Zusammenhängen. Aber vieles wird mehrdeutig und rätselhaft bleiben. Was in diesem Bildkosmos geschieht, hat Karl Kunz 1965 einer Freundin beantwortet, wobei er sich eines Zitats des Schweizer Psychiaters und Begründers der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung bediente: „‘Du durchwanderst diese dämmrigen und dunklen Räume und begegnest dort der Welt deiner inneren Bilder. Führe sie hinauf in die hell erleuchtete Dachkammer‘. Genau das ist es, was ich will“.
Karl Kunz – Einzelgänger der Moderne, Kühlhaus Berlin, 10963 Berlin, Luckenwalder Str. 3 (am U-Bhf. Gleisdreieck), Di–So 13–19 Uhr, bis 27. Juni. Katalog 6,00 Euro.
Schlagwörter: "Entarteter Künstler", Bildkosmos, Karl Kunz, Klaus Hammer, Kühlhaus Berlin, Moderne